Kalter Fels
höher. Irgendwann musste ja alles vorbei sein. Irgendwann würde sie den Gipfel erreichen oder einen der Grate, die zu ihm hinführten. Und dann konnte sie zu Fuß ins Tal gehen. Auf einem bequemen Wanderweg.
Sie wunderte sich, dass ihre Panik verflogen war. Und sie wunderte sich, dass sie immer noch so gut sah, obwohl sich mittlerweile auch der Himmel nachtschwarz eingefärbt hatte.
Sie wunderte sich, suchte aber nicht nach Antworten.
Sie kletterte einfach nur weiter. Gerade so, als wäre alles nicht sonderlich schwierig.
Gerade so, als hätte es sich nicht um lebensgefährliches Terrain gehandelt.
»Wir müssen doch irgendwas tun«, sagte der Scharfschütze im Helikopter. »Wir müssen sie da rausholen!«
»Geht nicht«, gab der Pilot zur Antwort. »Wenn wir jetzt näher ranfliegen, ist die Gefahr groß, dass wir sie verunsichern. Dass sie sich ablenken lässt … So wie die klettert, steht sie unter Schock, aber sie klettert auch verdammt gut. Ich kann das beurteilen.«
»Und? Was schlägst du dann vor?«
»Ich bin mir sicher, dass sie da hochkommt. Wir geben jetzt durch, dass wir sie gefunden haben. Die sollen dann einen zweiten Heli mit einem Doktor hochschicken. Wir fliegen auch rauf. Soweit ich weiß, kann man drüben hinterm Grat gar nicht weit unterm Gipfel ganz gut landen.«
Der Scharfschütze, der noch immer sein Präzisionsgewehr in den Händen hielt, pustete Luft durch die Backen. »Wohl ist mir dabei nicht«, sagte er. »Wenn uns die da runterfällt …«
»Die fällt nicht runter«, sagte der Pilot. »Glaub mir, die fällt nicht runter.«
Marielle erreichte das obere Ende der steilen Wand. Sie stieg im schwachen Licht des irgendwo hinter den Bergen noch versteckten Mondes über Steinschutt weiter auf, hatte am Schluss noch ein paar Meter in leichter Kletterei zu bewältigen und erreichte schließlich, nur wenige Meter vom Gipfelkreuz entfernt, die 2.180 Meter hohe Brunnsteinspitze.
Jetzt sah sie den Mond. Er warf ein diffuses Licht; durch die hohe Bewölkung hindurch hatte er eine weite Aura. Marielle ließ sich zu Boden sacken, streckte die Beine aus, keuchte sich die Anstrengung aus den Lungen.
Sie sah die Bergketten des Karwendels hintereinandergereiht, sah schroffe Felsspitzen, noch immer verschneite Bänder und Schluchten. Unter anderen Umständen wäre sie wahrscheinlich nicht aus dem Schwärmen herausgekommen über die Außergewöhnlichkeit des Augenblicks – allein auf diesem Gipfel. Gegenüber die drei markanten Zacken der Arnspitzen, dahinter, schon weniger klar zu erkennen, die Täler, die von der Leutasch aus ins Wetterstein hineinzogen, und darüber die Berge: Musterstein, Öfelekopf, und ganz weit hinten könnte man vielleicht die Dreitorspitzen …
Aber das alles war ihr egal. Sie sah es, ohne davon emotional berührt zu werden. Die Lichter von Scharnitz leuchteten warm herauf. Auch die bedeuteten ihr nichts. Da war nichts außer dem Gedanken, dass es dort unten etwas zu trinken gäbe. Sie hatte fürchterlichen Durst.
Durst, dachte sie. Grapefruitsaft, dachte sie.
Sie trank höchst selten Grapefruitsaft und hätte sich nicht erklären können, warum sie gerade darauf jetzt so begierig war. Sie versuchte es auch gar nicht.
Sie dachte darüber nach, wie lange der Abstieg zur Hütte dauern würde. Und wurde sich zugleich ihrer völligen Erschöpfung bewusst. Ihr wurde klar, dass sie es nicht mehr schaffen würde.
»Lassen wir sie noch ein paar Augenblicke mit sich allein«, sagte der Bergwachtarzt Dr. Beck aus Mittenwald. Der deutsche Polizeihubschrauber war kurz vor Marielles Ankunft am Gipfel nicht allzu weit entfernt gelandet.
»Sie braucht das jetzt: mit sich allein sein. Nur ein paar Augenblicke. Glaubt mir, das wird ihr guttun.«
Marielle hatte den Hubschrauber nicht wahrgenommen. Sie schien sich ganz allein auf dieser Welt zu fühlen.
Als der Arzt und zwei Bergwachtmänner mit Decken und einer Thermoskanne Schwarztee mit Traubenzucker an sie herantraten, saß sie schluchzend, zusammengekauert und zitternd da. Sie ließ sich die Decken umlegen und trank aus dem Becher, den ihr Beck zum Mund führte.
Die Männer fragten nichts. Der Arzt hatte vorher mit ihnen vereinbart, keine Fragen zu stellen. Er redete ihr nur gut zu, sagte etwas Ähnliches wie »Alles wird wieder gut« und »Wir bringen dich schon runter« und »Mach dir keine Sorgen«. Doch die Worte schienen an ihr abzutropfen.
Sie sagte: »Pablo. Wo ist Pablo?«
Beck winkte Richtung
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