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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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er sich in diesem extrem exponierten Gelände, wo jeder Fehler tödlich sein konnte, am Fels hielt.
    Ferdinand schrie wie ein Schwein, das man zum Metzger schleifte. Aber er ließ den Griff nicht aus.
    Marielle trat noch einmal zu. Sie glaubte, die Fingerknochen brechen zu hören. Ein knackendes Geräusch. Im Ton gedämpft durch Muskeln, Fleisch und Haut, aber doch deutlich genug, dass es ihr durch Mark und Bein ging.
    Ferdinand schrie nicht mehr. Sie hörte nur ein Würgen, das so ähnlich klang, als würde er sich die letzten Tropfen Gallenflüssigkeit aus dem Leib kotzen. Aber noch immer ließ er den Griff nicht los.
    Marielle hielt sich mit einer Hand an einem Felshenkel fest, beugte den Oberkörper leicht nach vorn und wollte sehen, was sich da knapp unter ihren Füßen zutrug. Der Kerl musste ja irgendwo festklemmen, sonst wäre er längst abgestürzt.
    Ganz vorsichtig schob sie den Kopf nach vorn. Schon sah sie eines seiner Beine panisch nach einem Halt im Fels tasten. Die Bewegungen waren so fahrig und verzweifelt, dass ihre Vermutung bestätigt wurde: Es konnte nur noch Sekunden dauern, und er würde sich mit seiner zertrümmerten Hand nicht mehr halten können und von der Felsrippe kippen und in die Tiefe stürzen. Zwanzig Meter, dreißig, vielleicht sogar mehr. Auf alle Fälle tief genug, dass sie sich nicht mehr vor ihm fürchten musste.
    Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihn in ein Gelände gelockt, dem er nicht gewachsen war. Und das wurde ihm zum Verhängnis.
    Sie richtete sich auf, noch immer kampfbereit, aber doch schon viel entspannter, und atmete tief durch.
    Einen winzigen Augenblick lang hatte sie Mitleid mit dem Mann, dem sie die Hand zu Brei getreten hatte und der in den Tod stürzen würde. Aber nur einen winzigen Augenblick lang.
    Dann wurde ihr schlagartig bewusst, dass es noch nicht vorbei war.
     
    Ferdinand war wie von Sinnen vor Schmerzen. Seine geschundene Hand verkrampfte sich am Fels. Mehrmals meinte er, das Bewusstsein zu verlieren. Aber er wollte nicht sterben. Und wenn er schon sterben müsste, dann sollte dieses Weib, dieses verdammte, verhurte, dreckige Weib, mit ihm sterben.
    Er hörte irgendwo in der Ferne das Knattern von Hubschrauberrotoren. Er hatte die Vorstellung verloren, ob das gut war oder schlecht. Es war ihm egal. Was ihn noch antrieb, war der Gedanke, die Frau zu erwischen und sie genauso zu erschlagen, wie er Karl Mannhardt erschlagen hatte, der seine Schwester nicht in Ruhe gelassen hatte, und wie er Marianne Grasberger erschlagen hatte, die sich für so schlau hielt.
    Er wusste, dass er sich beeilen musste. Wenn sie noch einmal zuträte, würde er sich nicht mehr halten können. Er nahm alle noch in seinem Körper verbliebenen Kräfte zusammen und konzentrierte sich darauf, mit einer einzigen großen, gewaltigen Bewegung aus seinem offenen Grab zu springen.
    Du wirst schauen, kleine Frau, dachte er. Du wirst schauen, was jetzt passiert.
     
    Es ging so schnell, dass Marielle keine Zeit hatte, noch irgendwie zu reagieren. Als sie die Hand, Ferdinands rechte, unverletzte Hand, auf sich zuschießen sah, erschien ihr das so unwirklich wie die Szene eines tumben Actionfilms.
    Sie sah die Hand, sah auch einen Augenblick lang das Gesicht des Mannes, das sich über die Felskante zu ihren Füßen streckte, dann war es schon wieder verschwunden. Die Hand aber hatte sie um den linken Fußknöchel gepackt, so grauenhaft hart und brutal, dass sie sofort in Panik geriet.
    Marielle schrie. Sie klammerte sich an den Griff, vier Finger hatten bisher guten Halt daran gefunden. Aber jetzt wurden ihr die Finger gleichsam länger. Ferdinand zog sie aus ihrem Stand, ihr Arm wurde gedehnt, ihren Fingern ging die Kraft aus, lang konnte sie sich nicht mehr halten. Sie versuchte, mit ihrem freien Fuß die klammernde Hand wegzutreten – aber es half nichts.
    Ferdinands Finger umfassten ihren Knöchel wie eine Handschelle, unnachgiebig und wie aus Eisen.
    Marielle schrie wieder und wieder. Doch während sie schrie, löste sich die Panik. Es kam ihr vor, als würde sie dem fürchterlichen Ringen von außen zusehen. Sie sah sich, und sie sah den Mann, der sie in den Tod reißen wollte. Sie sah, dass ihr Widerstand zu erschlaffen drohte, und sie sah, dass der Mann gar nicht von dem Wunsch, zu überleben, getrieben wurde, sondern allein von dem wahnsinnigen Drang, sie zu töten.
    Sie stand irgendwie außerhalb von sich selbst, und damit verbunden war, dass sie keine Angst mehr verspürte und

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