Kalter Fels
auch keinen Schmerz.
Sie sah sich auf einem Felsabsatz am Ende der Rippe um ihr Leben kämpfen, sah den Abbruch der Wand nach unten hin, sah viel tiefer den Bergwald in der Nacht verloren gehen, und sie sah, weit unten in der meeresschwarzen Nacht, die Positionslichter eines Hubschraubers, und sie hörte sein Motorengeräusch.
Es war, als würde das Näherkommen des Helis noch einmal Energien in ihr freisetzen. Sie war jetzt wieder ganz bei sich, schaute nicht mehr nur zu, sondern handelte mit der letzten Kraft und dem letzten Rest an Willen. Sie riss sich in einem Ruck nach hinten. Das brachte nur ein paar Zentimeter, doch die waren genug, um den Griff wieder fester zu packen. Und dann tastete sie nach der Westentasche. Der Reißverschluss war halb zu.
Verflucht, verflucht, verflucht, dachte sie. Und sie keuchte und fluchte und weinte. Doch dann brachte sie den Verschluss auf. Sie atmete einmal tief ein, zog dann ihr umklammertes Bein mit aller Kraft zu sich heran. Für einen Moment kam Ferdinands Gesicht wieder zum Vorschein: eine schmerzverzerrte Fratze. Mit der einen Hand krallte sie sich ein, beugte dabei aber den Oberkörper so weit nach vorn, wie es nur ging, und streckte Ferdinand Senkhofer die andere Hand entgegen.
Zweimal drückte sie auf den Auslöser des Pfeffersprays.
Hier oben war es noch nicht dunkel. Die Nacht kam vom Tal her. Hier oben konnte sie seine Augen noch deutlich sehen. Seine Augen und das Entsetzen darin.
Marielle spürte, wie sich sein Griff an ihrem Knöchel löste. Sie sah noch einmal seine Augen, sah, wie die Lider sich krampfartig schlossen, hörte ein Kratzen und Scharren auf dem Fels, dann war er weg.
Ohne einen Laut von sich zu geben, rutschte Ferdinand Senkhofer von der Felsrippe und stürzte seitwärts in die Tiefe.
»Heilige Maria von Waldrast. Hast du das gesehen?«
Der Pilot nickte. Sie waren mit dem Heli im Suchtempo die Bergflanke hochgeflogen, hatten mit zusammengekniffenen Augen nach jeder möglichen Bewegung gesucht, die im Licht des grellen Suchscheinwerfers zu sehen wäre, waren über die Baumgrenze hinausgekommen, hatten das flachere Schrofengelände überflogen, und plötzlich, als der Pilot wieder zum Steigflug ansetzte, war ein Mensch in den Lichtschein gestürzt.
Sie hatten nicht sehen können, woher er kam, wo er abgestürzt war. Sie sahen ihn fallen und aufschlagen, sahen, wie er noch einmal durch die Wucht des Aufpralls hochkatapultiert wurde und dann in den brüchigen Schrofen mit verdrehten Gliedmaßen liegen blieb.
»Meinst du, das war er?«, fragte der Scharfschütze.
Der Pilot nickte. »Ich bin mir ziemlich sicher. Die Frage ist jetzt nur, was tun. Das Mädchen suchen? Oder sich zuerst um ihn kümmern?«
»Um ihn? So wie der geflogen ist, braucht der nur noch den schwarzen Leichensack. Um den müssen wir uns nicht mehr viel kümmern …«
Im nächsten Augenblick bekamen sie die Wand ins Blickfeld. Glatt und kompakt im rechten Teil, strukturierter und von einigen Rissen durchzogen im linken Teil. Und dort sahen sie jemanden klettern.
»Sie muss über dieses schräge Band rauf sein, diese komische Felsrippe da«, sagte der Scharfschütze. »Und jetzt will sie grade hoch.«
»Spinnt die? Warum klettert sie da rauf? Warum wartet sie nicht, bis wir sie rausholen?«
Marielle kletterte wie in Trance. Sie hörte den Hubschrauber ganz nahe, doch sie kümmerte sich nicht darum. Das Gelände wies den oberen vierten Schwierigkeitsgrad auf. Viel Wandkletterei, dazu eine Verschneidung, die weit auszuspreizen war. Der Fels war überwiegend fest und griffig, doch wie überall im ganzen Karwendel musste immer damit gerechnet werden, dass einem Griffe oder Tritte ausbrachen. Keine guten Voraussetzungen für einen Alleingang, ganz ohne Sicherung.
Aber Marielle kletterte, als wäre sie in den sonnenbeschienenen Calanques. Leicht und flüssig bewegte sie sich im steilen bis senkrechten Fels, ihre Bewegungen waren nicht abgehackt, nicht zögerlich. Jedes Kletterproblem, das sich vor ihr auftat, jede noch so schwierige Stelle löste sich auf: Da war ein versteckter Griff, hier konnte sie eine Faust einklemmen, und so gab es nichts, was sie aufhalten konnte.
Sie wusste nicht, ob das Wirklichkeit war oder alles nur ein Traum. Selten hatte sie sich so souverän klettern erlebt. Ihr war, als wäre ihr jeder Klettermeter hier bestens vertraut. Sie spürte keinen Zweifel, keine Erschöpfung – und auch keine Angst.
Sie kletterte einfach nur. Einfach immer
Weitere Kostenlose Bücher