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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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schlimmstmöglichen Wendungen in diesem Fall gar nicht erst an sich heranzulassen.
    Doch das war alles andere als leicht.
    * * *
     
    Marielle hastete über Felsen und Steinschutt der sich aufsteilenden Felswand entgegen. Sie musste sich nicht umwenden, um ihren Verfolger dicht auf den Fersen zu wissen.
    Wo nimmt diese Sau die Kraft her?, dachte sie. Und sagte es sich dann keuchend wieder leise vor: »Wo nimmt er nur die Kraft her?«
    Sie wusste, sie würde nach dem Erreichen der Wand keine Zeit haben, sie nach der besten Durchsteigbarkeit abzusuchen. Das musste ihr während des Bergaufhastens gelingen. Sie musste blitzschnell herausfinden, wo sie klettern konnte, ohne abzustürzen. Wo sie die Wand überwinden konnte und Ferdinand hoffentlich nicht.
    Wie dem auch sei, über der Wand begann der Gipfelbereich der Brunnsteinspitze. Während der Kletterei würde sie einen deutlichen Vorsprung gewinnen. So gut wie sie würde er nicht klettern können. Und selbst wenn es ihm gelang, diese Wand zu durchsteigen, so rechnete sie doch damit, sich dann längst auf dem Serpentinenweg zu befinden, der hinunterführte zur Brunnsteinhütte. Dort wäre sie in Sicherheit.
    Sie hechelte weiter den Berg hinauf. Zweimal stolperte sie und wäre beinahe hingefallen. Einmal konnte sie sich abfangen, beim anderen Mal landete sie auf der linken Hand und zog sich schmerzhafte Schürfwunden zu.
    Verdammt, dachte sie, wenn ich auf die andere Hand gefallen wäre, hätte ich mir mit dem Taschenmesser wahrscheinlich selbst die Pulsader aufgeschlitzt. Sie zog das Messer aus dem Ärmel, klappte es zu und steckte es in die Jackentasche. Es war eine Sache von Sekunden, und doch überfiel sie die Angst, dass sie zu viel Zeit damit verloren hatte. Die braungraue Dunkelheit begann mit tödlicher Konsequenz aus dem Tal heraufzusteigen.
    Sie hastete weiter, noch fünfzig Meter, noch vierzig, noch dreißig. Sie erschrak beinahe über die Steilheit der Wand, die jetzt aus der Nähe zu erkennen war. Rechter Hand erschien diese wuchtige Felsstufe fast senkrecht, und die Farbe des Gesteins mutete gelblich und orange an – soweit sich dies im letzten Licht des Tages überhaupt noch sagen ließ. Dieser Wandabschnitt verhieß nichts Gutes.
    Im zentralen Wandteil zog sich ein Spalt in die Höhe, ein Risskamin, der immer wieder knickte. Der Kamin war eine Möglichkeit …
    So schlecht bin ich nun auch wieder nicht beim Kaminklettern, dachte sie. Doch sie hatte Angst, dass aus dem Kamin irgendwo weiter oben ein Schulterriss werden könnte, und das war wirklich das Letzte, was sie brauchen konnte. Sie war kein Ass im Schulterrissklettern. Ganz zu schweigen davon, dass ein Schulterriss ihr immer fürchterlich viel Krafteinsatz abverlangte. Und allzu viel Kraft hatte sie nach diesem Ansturm auf den Berg wirklich nicht mehr.
    Links, ich muss nach links.
    Und in der Tat: Etwas weiter links sah der Wandabbruch ein wenig besser aus. Eine Felsrippe zog von rechts nach links schräg hinein in die Wand, bestimmt nicht schlimmer als dritter Schwierigkeitsgrad. Dort freilich, wo sich die Rippe im Steileren verlor, da würde es noch einmal besonders spannend werden: Irgendwie würde sie von dort weitermüssen, egal wie das Gelände aussah.
    Sie hastete auf die Wand zu, querte im ständig unter den Füßen nachgebenden Geröll nach links, erreichte die Felsrippe.
    Leicht, dachte sie, das ist viel zu leicht, als dass mir dieses Arschloch nicht folgen könnte.
    Aber es half nichts. Es gab nur diese eine Möglichkeit.
    Die hätten mich doch sehen müssen vom Hubschrauber aus, dachte sie. Auch ohne dass ich wie blöd winke. Ich verstehe das nicht.
    Doch sie wusste, dass Lamentieren jetzt nicht half. Sie musste sich ihres Verfolgers erwehren.
    Ihre Beinmuskeln brannten, ihre Achillessehnen schmerzten. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt und bekam Zweifel, schwierigere Kletterstellen noch überwinden zu können. Aber dann sah sie sich um, und sie sah Ferdinand. Weit entfernt war er nicht. Sein Gesicht war blass und vor Anstrengung verzerrt. Doch locker ließ er nicht, rannte weiter, taumelte weiter …
    Wenn ihn nur der Schlag treffen würde, flehte Marielle.
    Und sie tat dann wieder etwas, was sie weder geplant hatte noch sich selbst erklären konnte.
    »Wenn dich der Herzschlag trifft, dann klatsch ich Beifall!«, rief sie ihm zu. »Drecksau, verfluchte.« Und sie klatschte zweimal, dreimal in die Hände. Und der Fels warf ihr Klatschen als unheimliches Echo zurück.
     
    Er

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