Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
schickte ihre beiden Kinder, Sina und Torge, mit einer kurzen Erklärung hoch in ihre Zimmer. Sie würde ihnen eine Entschuldigung für die erste Stunde schreiben müssen. Ob ein Mord in direkter Nachbarschaft als Begründung herhalten konnte? Die Vorstellung erheiterte sie. Ein ungewohntes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Im nächsten Moment stutzte sie. Was war denn los mit ihr? Entwickelte sie sich zu einem Monstrum? Seit Wochen hatte sie nichts mehr komisch gefunden, und nun das? Es musste an diesen Tabletten liegen, die sie ineinem fort nahm. Stimmungsaufheller, Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten, je nachdem. Bettina Rohwer war überzeugt davon, dass ihr das ganze Zeug sowieso nicht half. Darauf verzichten wollte sie in ihrer derzeitigen Situation aber auch nicht.
Sie ging noch einmal nach draußen, um dem Abdecker von ihrem Anruf bei der Polizei zu berichten. Dann kehrte sie in ihre Küche zurück, froh darüber, dass der große Mann wie erstarrt auf der Bank draußen sitzen geblieben war. Sie wollte ihm beim Warten auf die Polizei nicht Gesellschaft leisten, weder draußen in der Kälte noch in der Geborgenheit ihrer Küche.
Sie ließ heißes Wasser ins Spülbecken rauschen und sammelte die Holzbretter und Becher vom Frühstückstisch zusammen. Die einfache Arbeit beschäftigte nur ihre Hände, ihre Gedanken wanderten weiter. An der Spüle stehend, fiel ihr Blick durch das Fenster hinaus in den Garten. Die Büsche und Bäume nahmen im ersten Tageslicht langsam Konturen an. Weit hinter ihrem Garten und dem angrenzenden Acker schimmerte durch einen Baumgürtel der Grevendorfer See. Das Wasser erschien bleigrau und kalt – eiskalt. Unweit des Sees lag der Hof ›Grund‹, dessen Bewohner alle tot waren. Und kalt. Ob so der Tod war? Kalt und schwarz, wie die Tiefen des Grevendorfer Sees? Oder wie das dunkle Grab, in das sie den kleinen, weißen Sarg ihrer Tochter Elise versenkt hatten?
Pia Korittki stand am Fenster ihres Büros und trommelte nervös mit den Fingerspitzen gegen die kalte Scheibe. Sie befand sich im 7. Stockwerk des Polizeihochhauses. Zu ihren Füßen lagen der Trave-Kanal und weiter dahinter die Altstadt Lübecks, halb verborgen von einem Schleier dichter, nasser Schneeflocken, die unablässig gegen das Glas klatschten.
Sie waren sicher schon alle in Kürschners Büro, ihre neuenKollegen von der Mordkommission. Ein weiterer Aufschub der bevorstehenden Zusammenkunft würde ihr nichts als zusätzliche Unannehmlichkeiten bringen. Ihre Lage war sowieso schon deprimierend genug. Pia riss sich von dem hypnotisierenden Anblick der wirbelnden Schneeflocken los und machte sich auf den Weg zu dem Büro am anderen Ende des Flures. Ihr Kollege, Kriminalhauptkommissar Wilfried Kürschner, hatte zu einer kleinen Feier anlässlich seines 55. Geburtstages geladen. Er hatte den Sektumtrunk in Anschluss an die Frühbesprechung gelegt, weil dann die meisten von ihnen noch im Hause waren.
Kriminalkommissarin Korittki betrat Kürschners Büro mit gleichmütiger Miene. Nur ein paar der anwesenden Männer registrierten ihr Eintreten überhaupt. Kürschner teilte sich den Raum mit seinem Kollegen Heinz Broders. Das Büro mit der breiten Fensterfront wirkte viel dunkler als sonst, weil die Menschenansammlung das hereindringende Tageslicht abschirmte. Es roch nach Kaffee, Zigarettenrauch und süßen Gebäckstücken.
Pia Korittki gehörte seit nunmehr elf Wochen zur Mordkommission der Bezirkskriminalinspektion Lübeck. Anfangs war sie zuversichtlich gewesen, früher oder später in der neuen Abteilung akzeptiert zu werden. Die Wochen waren jedoch vergangen, ohne dass sich an ihrem Status des »Geduldetwerdens« etwas gebessert hätte. Inzwischen dachte Pia mit einem Anflug von Galgenhumor, dass es leichter wäre, Aufnahme in der Fußballnationalelf zu finden, als in diesem Kommissariat akzeptiert zu werden. Erschwerend kam hinzu, dass die neuen Kollegen sich auch untereinander nicht sonderlich gut verstanden. Sie schienen in zwei Lager gespalten zu sein. Egal was Pia sagte oder tat, sie brachte immer mindestens eine der Fraktionen gegen sich auf.
Es kursierten zudem Gerüchte, Pia Korittki habe einem äußerstbeliebten Kollegen, der sich ebenfalls beworben hatte, diesen Job vor der Nase weggeschnappt. Ihre bisherigen Leistungen im Polizeidienst waren überdurchschnittlich gut. Trotzdem unterstellte man ihr, sie hätte ihr Ziel nur über Beziehungen erreicht. Unglücklicherweise war bekannt geworden, dass ihr
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