Kalter Schlaf - Roman
1
Dr. Kate Hanson kam fast lautlos durch den von einem Vorhang verdeckten Seiteneingang des Hörsaals herein. Der einzige Mensch, den sie hier zu sehen erwartete, war bereits da: Julian Devenish, ihr hagerer hochbegabter studentischer Assistent, der in einem Regiestuhl saß und mit gerunzelter Stirn über einem Skript brütete. Er stand auf, als sie hereinkam.
»Hi, Kate … Dr. Hanson. Ich habe alles vorbereitet«, sagte er und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Der Soundcheck ist durchgeführt, ich habe die Beleuchtung so angepasst, wie Sie’s wollten, und die PowerPoint-Präsentation ist im Standby. Fotokopien der Vorlesungsunterlagen liegen auf dem Tisch am Ausgang, zum Mitnehmen bereit. Sollte irgendwas schiefgehen – was nicht passieren wird –, bringe ich’s in Ordnung. Wenn Sie anfangen wollen, brauchen Sie nur leicht aufs Mikro zu klopfen …«
Kate sah lächelnd in das ernste Gesicht des großen, langhaarigen Studenten auf, nickte und sagte ruhig: »Danke, Julian. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen. Aber bitte lesen Sie weiter. Ich bin sicher, dass alles perfekt klappen wird.«
Sie blieb, an einen Tisch gelehnt, stehen und sah auf ihre Armbanduhr – 13:55 Uhr, Mittwochnachmittag. Sie konnte hören, wie der Saal sich füllte und das Stimmengewirr lauter wurde. In weiteren fünf Minuten würde sie mit ihrer ersten Vorlesung dieses Studienjahrs beginnen. Sie schloss die Augen, atmete mehrmals tief durch und öffnete sie wieder.
Julian hielt ihr einen Zettel mit einer kurzen Mitteilung hin. Kate beugte sich nach vorn, um sie entgegenzunehmen, und warf einen Blick darauf, während sie in ihrer Umhängetasche nach ihrem Handy wühlte. Nach einem Blick aufs Display runzelte sie die Stirn. Kein Hinweis auf den Anruf, den sie erwartet hatte. Sie konzentrierte sich wieder ganz auf die Mitteilung. Bitte sofort DS Watts, Rose Road, anrufen . Sie scrollte zu seiner gespeicherten Nummer weiter, wählte und wartete. Keine Antwort. Heute schien niemand mit ihr reden zu wollen. Nochmals ein Blick auf ihre Uhr. Noch eine Minute.
Kate richtete sich auf, strich ihren schmal geschnittenen Rock von Armani über den Hüften glatt und überzeugte sich, dass die Kostümjacke richtig saß. Sie registrierte, dass Julian ihr aufmunternd zunickte, warf ihre üppige rotbraune Mähne mit einer Kopfbewegung nach hinten, zupfte ein letztes Mal an ihrer Jacke und trat, unter erwartungsvollem Schweigen und von hundertfünfzig Augenpaaren genau beobachtet, aufs Podium.
Sie drückte eine Taste des bereitstehenden Laptops, dann wandte sie sich den Reihen junger Gesichter zu. Ein paar erkannte sie aus Bewerbungsgesprächen mit Studienanfängern wieder. Einige wenige kannte sie gut, darunter einen Überraschungsgast, der in einer der letzten Reihen des kühlen Hörsaals saß: blond, in einem makellosen weißen Oberhemd, das das Tageslicht reflektierte. Sie schickte ein kleines Lächeln in seine Richtung, aber er reagierte nicht darauf. Zu weit weg.
»Willkommen zu meiner Einführungsvorlesung zu Kriminologie, Modul eins, ›Psychologie, Verbrechen und Strafrecht‹. Wer sich nur hierher verirrt hat oder kein Interesse an diesem Thema hat, sollte jetzt vielleicht lieber gehen.« Sie wartete. Einige Studenten sahen sich um, aber niemand stand auf. »Gut«, sagte sie zufrieden, »ein aufmerksames Publikum. Also los!«
Ein weiterer Tastendruck füllte den Großbildschirm mit Porträtfotos. Ausschließlich Frauen, ungefähr zwei Drittel Weiße, manche mit altmodischen Frisuren, jung, lächelnd und arglos. Andere mit etwas älteren Gesichtern. Im Hörsaal ertönte leises Gemurmel.
Kate sah auf den Bildschirm, dann wieder in den Hörsaal und sprach mit ruhiger Autorität weiter. »Eine umfangreiche Bildergalerie, nicht wahr?« Sie benutzte ihren Laserpointer. »Zwischen diesen acht Frauen besteht ein Zusammenhang. Diese sieben hier bilden eine weitere Gruppe … genau wie diese vierzehn.«
Die Studenten betrachteten die Fotos. Kate beobachtete sie aus dem Augenwinkel heraus. »Ich vermute, dass die meisten von Ihnen diese Gesichter nicht kennen, aber ich hoffe, dass sie mit ein Grund dafür sind, dass Sie Kriminologie studieren und zu Ihrem Beruf machen wollen. Meiner Ansicht nach ist das dringend notwendig.«
Kate trat langsam an den Rand des Podiums, wo sie ihren schweigenden Zuhörern näher war, und senkte die Stimme, um den ersten Hauptpunkt ihrer Vorlesung zu unterstreichen. »Neunundzwanzig Frauen. Die
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