Kalter Weihrauch - Roman
eigentlich die Schwestern vom Kloster, in dem diese Agota gelebt hatte?
Pestallozzi setzte sich mit einem Ruck gerade. Endlich, es war, als ob er sich durch Spinnweben gekämpft hätte seit gestern Abend. Er wollte einfach wissen, was dieser jungen Frau zugestoßen war, selbst wenn es, was höchst unwahrscheinlich war, kein Verbrechen gewesen sein sollte, das zu ihrem Tod geführt hatte. Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dann stand er auf und ging zu der Tür, die ins Nebenzimmer führte und heute ausnahmsweise noch geschlossen war. Er öffnete die Tür, Leo äugte gerade in eine Tüte mit getrockneten Früchten, der Bursche achtete wirklich auf seine Gesundheit.
»Auf geht’s«, sagte Pestallozzi. »Leo, es gibt Arbeit! Als Erstes schau, dass du möglichst viel Material über diesen Orden bekommst. Wie heißen die, zu welcher Gemeinschaft gehören die, sind das Benediktinerinnen oder Zisterzienserinnen oder was es da sonst noch alles gibt. Dann recherchier im Internet das ganze Drumherum. Wie spricht man die eigentlich an, Oberin, Äbtissin, was ist so eine Schwester Superior genau, et cetera et cetera. Und dann natürlich, ganz wichtig, wie schaut es um die Zuständigkeit aus. Gibt es womöglich irgendwelche Kirchenrechtsparagraphen, hinter denen die sich verstecken können? Ich möchte bei unserem nächsten Besuch dort nicht wie ein Idiot dastehen.«
Leo sah drein, als ob er auf Stanniolpapier statt auf eine gedörrte Marille gebissen hätte. Morgen war Sonntag, er hielt es ganz eindeutig für übertrieben, bereits mit Ermittlungen zu beginnen, wenn noch nicht einmal feststand, dass die Frau im Schnee überhaupt ermordet worden war.
»Hat die Lisa schon ein Ergebnis?«, wagte er sich vor.
»Sie hat noch nichts von sich hören lassen. Aber es ist ja erst früher Vormittag.«
Der Chef würde nie etwas auf Lisa kommen lassen, völlig zu Recht übrigens, die Lisa war eine super Gerichtsmedizinerin und eine wirklich nette Frau noch dazu. Außerdem nicht einmal unsexy, dabei ging sie auch schon auf die Vierzig zu. Und so unglaublich gewissenhaft und immer darauf bedacht, nur ja kein Fitzelchen zu übersehen. Aber man konnte es auch übertreiben.
»Vielleicht ist es ja ein Aneurysma gewesen«, bemerkte Leo lässig. Manchmal musste man dem Chef und der Gerichtsmedizin ein wenig auf die Sprünge helfen, auch wenn einem das selten Lob einbrachte.
Der Chef sah auch prompt ärgerlich drein. »Sollte es sich um ein Aneurysma handeln, dann wird es die Lisa bestimmt …«
Ein Klopfen an Pestallozzis Bürotür unterbrach ihr Geplänkel, dann flog die Tür auf, und eine Person betrat mit hörbar selbstbewussten Schritten den Raum. Sekunden später stand auch schon Polizeidirektor Grabner höchstpersönlich vor ihnen, den alle nur Präsident nannten. Leo ließ geistesgegenwärtig seinen Früchtemix in der Schublade verschwinden. Seitdem der Präsident von seiner Gattin auf Diät gesetzt worden war, waren kein Dürüm und kein Packerl Mannerschnitten vor ihm sicher.
»Ah, da seid’s ja!«
Grabner ließ sich schweratmend auf den zweiten Sessel in dem kleinen Raum fallen, Pestallozzi blieb am Fenster stehen. Selbstverständlich wurde man normalerweise nicht von Polizeidirektor Grabner aufgesucht, sondern in sein Büro beordert, in den eleganten, repräsentativen Raum mit Biedermeierschreibtisch, Lederdrehsessel dahinter und einem Paul Flora an der Wand. Aber ebenso selbstverständlich hatte sich die Gerda Dörfler ebendiesem Raum ganz besonders liebevoll gewidmet. Sogar eine Krippe hatte die Dörflerin aufgebaut. Dem Grabner, einem altgedienten Sozi, war das furchtbar peinlich. Aber er brachte es nicht übers Herz, seine treue Sekretärin in die Schranken zu weisen. Stattdessen hielt er sein Büro in den betreffenden Wochen die meiste Zeit über sorgfältig verschlossen und wanderte durchs Haus, ein heimatloser Weihnachtsflüchtling. Jetzt sah er sich in Leos Reich um, das er gerade zum ersten Mal in all den Jahren betreten hatte. »Nett haben Sie’s hier, Attwenger.«
Leo nickte wenig überzeugt.
»Und überhaupt kein, nun ja, weihnachtlicher Schmuck, wie ich sehe. Hat die Gerda auf euch vergessen?« Grabner klang ehrlich interessiert.
»Ich bin Moslem. Deshalb!«
Leo sah seinen obersten Vorgesetzten todernst an, der machte den Mund auf und nur ganz langsam wieder zu.
»Attwenger! Das habe ich ja gar nicht gewusst! Sie sind Moslem? Von Geburt an oder sind Sie übergetreten? Das ist ja ein völlig
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