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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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höchstwahrscheinlich aus einem Kloster stammte. Oder womöglich gar von dort geflüchtet war. Gab es denn überhaupt keinen sicheren Ort mehr auf dieser Welt für ein junges Mädchen? Nicht einmal mehr hinter dicken Klostermauern? Obwohl, dort wahrscheinlich am allerwenigsten, sie brauchte nur an die Berichte über Kinderheime zu denken, die seit Monaten das Land erschütterten, und schon bekam sie Kopfschmerzen. Ob die Tote im Schnee so ein Fall werden würde? Artur trommelte bestimmt schon mit den Fingern, das einzige Zeichen von Nervosität, das er sich ab und zu gestattete. Und sie stand hier und grübelte über Fleckenprobleme und schwelgte in Selbstmitleid, statt ihn zu unterstützen. Sie schnappte sich einen Karton und warf ihn zu all dem anderen Kram in den Einkaufswagen, dann stellte sie sich an der Kassa an. Die Frau hinter dem Förderband lächelte wie ein Roboter. Du Tapfere, dachte Lisa und lächelte zurück.
    Rudolph, the red nosed reindeer … Sie flüchtete aus dem Laden.

    *

    Pestallozzi hätte sich gern einen Kaffee geholt, aber er zog es vor, in seinem Büro zu bleiben und mit den Fingern zu trommeln. Denn direkt vor seiner Tür begann der Horror. Das gesamte Gebäude war weihnachtlich geschmückt, aber im dritten Stock hatte eine Wahnsinnige gewütet: Gerda Dörfler, um präzise zu sein, die Sekretärin vom Präsidenten. Jedes Jahr Ende November schleppte sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihren privaten Vorrat an Girlanden aus Plastikzweiglein, mit Kunstschnee besprühten Bäumchen und Weihnachtsmännern mit Wackelkopf in die Alpenstraße, um die Räume der Mordkommission ein bisschen gemütlich zu gestalten , wie die Dörfler das nannte. Das Abspielen von Weihnachtslieder-CDs hatte ihr der Präsident gottlob untersagt, sonst wären die Krankenstände in die Höhe geschnellt wie damals bei der Vogelgrippe. Vier Wochen lang musste man jetzt durchhalten, dann würden die Räume wieder so kahl und nüchtern sein, wie es dieser Abteilung zustand, alles andere war einfach nur eine lächerliche Fassade. Der Tod in seinen scheußlichsten Formen war ihr täglich Brot, seines und das seiner Kollegen, darüber half auch eine blinkende Girlande über dem Kaffeeautomaten nicht hinweg, den er jetzt nur zu gern aufgesucht hätte. Verdammte Gerda! Andererseits, die Gerda Dörfler war wirklich eine herzensgute Person, die ihre bescheuerte Aktion nur freundlich meinte. Es war bestimmt nicht einfach, als alleinlebende Frau tagein, tagaus Protokolle mit grausamsten Details zu bearbeiten und sich die rüden Sprüche der Männer anzuhören. Und dann nach Hause zu gehen und sich vor den Fernseher zu setzen. Oder zu kochen. Oder zu sporteln. Was immer sie alle in dieser Abteilung eben versuchten, um den Kopf von den Bildern des Tages zu leeren. Er selbst hatte es schon lang aufgegeben, mit irgendwelchen Tricks zur Ruhe zu kommen. Das funktionierte ja doch nicht. Nie. In der vergangenen Nacht hatte ihn das Gesicht dieser jungen Frau verfolgt, egal, ob er die Augen geschlossen gehalten hatte oder nicht. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte sich das Gesicht endlich in ein graues Flimmern aufgelöst, und er war eingenickt, wenigstens für knapp zwei Stunden. Für seine Verhältnisse war das ein geradezu sensationell langer Schlaf gewesen. Und jetzt saß er da und starrte wieder auf dieses Gesicht, diesmal allerdings in der Realität, nämlich auf den Fotos der Spurensicherung. Eine Postulantin namens Agota höchstwahrscheinlich, fast 100-prozentig. Denn er nahm nicht an, dass außer dieser Agota noch eine andere junge Frau in Nonnentracht am See entlangspaziert war. Eine junge Frau aus Ungarn. Vermutlich eine Roma. Ungarin, zukünftige Nonne, Roma. Warum nicht gleich eine Besucherin vom Mars? Sie war ihm so fremd, er erkannte keinen Anknüpfungspunkt. Natürlich, die üblichen Suchabläufe würden gestartet werden, Europa war ja mittlerweile vernetzt bis ins hinterste Moldawien. Aber wo mit dem Fragen beginnen? Im Kloster? Er fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Bei den Schwestern? Mit ihren raschelnden Kleidern und ihren derben Haferlschuhen? Mit ihren glatten Gesichtern und den Haaren, die straff unter der Haube verschwanden? Nie wieder war er einer von ihnen nahegekommen. Nie wieder, seitdem er als Vierjähriger schluchzend seiner Mutter übergeben worden war, an der Pforte vom Kindergarten der Unbeschuhten Schwestern vom blutenden Herzen Jesu . So hatten die geheißen, ganz im Ernst! Aber wie hießen

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