Kalter Weihrauch - Roman
sein. Es ist die verzeihliche Eitelkeit einsamer Menschen zu denken, sie wären mit ihrer Einsamkeit ganz allein auf der Welt. Diesen Spruch hatte er einmal gelesen, auf irgendeinem Kalenderblatt, der hatte ihm gut gefallen. Und jetzt ging er hinauf zur Klinik, stapfte durch Matsch und Pfützen. Die Lisa war auch so eine, die ihre Ruhe brauchte. Die Menschenansammlungen lieber aus dem Weg ging. Das brachte einem schnell den Ruf ein, arrogant zu sein. Distanziert. Die hielt sich wohl für was Besseres! Und er konnte sie nicht einmal in Schutz nehmen. Denn das hätte das Getuschel nur angefacht. Der Pestallozzi und die Kleinschmidt, na, ihr wisst’s schon. Zwei stille Wasser, die sich gefunden haben. Solche Gerüchte waren genauso untilgbar wie Verleumdungen im Internet, sie klebten an einem bis in alle Ewigkeit. Nicht, dass es so schlimm gewesen wäre, mit Lisa in Verbindung gebracht zu werden! Ganz und gar nicht! Aber eben nicht auf solche …
Er passierte die Einfahrt zur Klinik am Pförtnerhaus vorbei. Das Gelände war wie ein Park angelegt, auf einer Bank saß eine Gestalt, dick eingemummt, und hielt eine feurige Rede vor unsichtbaren Zuhörern. Gleich dahinter ragte das Gebäude der Psychiatrie in die schneegraue Luft. Pestallozzi bog nach links, überquerte einen fast leeren Parkplatz, dann war er im Gerichtsmedizinischen Institut angelangt. Durch das Foyer und die Stufen in den Keller hinunter, wo sich der große Seziersaal und die kleineren Räume für die detaillierten Analysen und Untersuchungen befanden. In Krimis konnte man ja immer lesen, wie ekelig die Luft an einem solchen Institut war, und wie die Polizeibeamten kaum zu atmen wagten. Aber Pestallozzi hatte es nie so empfunden, in jedem Krankenhaus fand er die Geruchsmelange von Essen, Desinfektionsmitteln und Urin viel schlimmer.
Kajetan, Lisas Assistent, kam ihm entgegen, er wirkte sonderbar verlegen und aufgeregt zugleich. »Die Frau Doktor wartet schon auf Sie, Herr Chefinspektor!«
»Danke, ich kenne ja den Weg.«
Die Tür stand offen, und er konnte sie bereits aus der Entfernung sehen, Lisa Kleinschmidt stand über ein Mikroskop gebeugt. Er klopfte an den Türrahmen, und sie blickte auf, dunkelblonde Stirnfransen fielen ihr ins Gesicht, sie blies sie nach oben weg. Lisa Kleinschmidt war eine der angesehensten Gerichtsmedizinerinnen des Landes, aber sie sah aus wie eine eifrige Studentin auf dem Weg zur nächsten Vorlesung.
»Hallo, Artur!« Sie kam ihm entgegen und klopfte ihm freundschaftlich auf den Oberarm. »Na, schon in Vorweihnachtsstimmung?«
Sie lachten beide und zogen Grimassen.
»In diesem Jahr sind die ersten Lebkuchen schon im August in den Supermärkten aufgetaucht. Einfach verrückt!« Frau Doktor Kleinschmidt rollte mit den Augen.
»Wem sagst du das. Bei uns wütet die Gerda Dörfler, du weißt schon, die Sekretärin vom Grabner. Der dritte Stock schaut aus wie eine Kripperlschau in Las Vegas.«
Sie lachten wieder. Es war nur harmloses Geplänkel, aber sie brauchten es beide, bevor sie sich gleich wieder einmal gemeinsam über einen toten Körper beugen würden. Warum ihn Lisa wohl gebeten hatte, allein zu kommen, bevor sie mit dem Sezieren begann? Pestallozzi fühlte, wie eine unbehagliche Erwartung über ihn kam. Bestimmt nicht, damit sie ihm unter vier Augen etwas Erfreuliches berichten oder zeigen konnte.
»Also dann, Artur!«
Lisa fühlte seine Unruhe, er brauchte gar nicht zu drängen. Sie machten die paar Schritte zu dem großen Nirosta-Tisch, auf dem die junge Frau lag.
»Sie war nicht länger als zwei, vielleicht drei Stunden tot, wie sie der Krinzinger gefunden hat«, sagte Lisa. »Die Totenstarre setzt bei dieser Kälte ja verlangsamt ein, und auch die Totenflecken am Rücken und am Gesäß haben sich noch vollständig umlagern lassen. Aber ich glaube nicht, dass sie dort im Wald auch getötet worden ist.«
Der Körper der Frau war bis zum Schlüsselbein mit einem Tuch bedeckt, das gleißende Licht eines Deckenstrahlers war direkt auf ihr Gesicht gerichtet. Er sah sie zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit. Sie erschien ihm noch jünger als in der vergangenen Nacht und beinahe schön. Ja schön. Abweisend und sanft zugleich und unendlich erschöpft, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, die jetzt geschlossen waren. Lisa beugte sich über den Tisch und zog vorsichtig ein Lid nach oben.
»Sie ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit erstickt worden, das lässt sich aus den Einblutungen in den Augäpfeln
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