Kalter Weihrauch - Roman
»Dann will ich das fürs Erste so zur Kenntnis nehmen. Wir werden wiederkommen, wenn wir mehr über den Tod der Frau wissen. Es wird aber unumgänglich sein, dass jemand aus Ihrem Haus sie identifiziert.«
»Ich stehe jederzeit zur Verfügung. Wir werden für ihre Seele beten.«
Pestallozzi ließ den Blick durch das kahle Zimmer wandern. Bitte jetzt kein Geplänkel mehr, dachte Leo inbrünstig. Und sein Flehen wurde erhört, vielleicht gab es ja doch ein höheres Wesen. Der Chef stand auf, die Schwester erhob sich ebenfalls. Wie eine nächtliche Prozession schritten sie wieder zum Ausgang, die Superior vorneweg. Sie öffnete die Tür, Schnee wurde hereingeweht. Der Chef zögerte ganz kurz, dann entschied er sich offenbar gegen einen Händedruck.
»Danke für das Gespräch. Sie werden von uns hören.«
Ein Muskel im Gesicht der Schwester zuckte, vielleicht sollte das ja ein Lächeln sein. Die Tür schloss sich, und sie standen wieder in der Finsternis, Leo verschwand ohne weitere Erklärungen hinter einer Schneewechte. Minuten später saßen sie im eiskalten Skoda und rieben sich die Hände.
»Zurück?«, fragte Leo, seine Zehen waren bestimmt schon zwetschkenblau.
»Zurück«, sagte Pestallozzi. »Genug für heute. Um diese Zeit macht es keinen Sinn mehr, Fragen zu stellen.«
Mitternacht war längst vorüber, als sie hinunter nach Salzburg fuhren. Das Glitzern der festlichen Weihnachtsbeleuchtung war verschwunden, die Stadt lag da wie ein riesiger dunkler Ameisenhaufen. Schneeflocken wirbelten im Licht der Straßenlaternen. Leo setzte den Chef vor dessen Haustür ab, eine knappe Viertelstunde später war er selber endlich, endlich zu Hause. Das ›Take Five‹ konnte ihm gestohlen bleiben. Er stellte sich unter die Dusche, das heiße Wasser brannte auf seiner Haut. Plötzlich fiel ihm die Sandra ein. Wo die wohl gerade steckte? In einem fremden Bett womöglich? Aber es war ihm egal, ehrlich. Nach so einer Nacht war er nur froh, dass keine Frau und keine Freundin auf ihn warteten, die ihn mit Fragen löchern konnten. Leo ging schlafen.
*
Unfassbar, wie die armen Frauen das aushielten. Die Regalbetreuerinnen oder wie das hieß, und die an der Kassa. Dieses pausenlose Gedudel. Jingle bells, jingle bells, jingle all the way, oh what fun it is to ride … Sie hätte jetzt schon schreien können, dabei war sie erst seit fünf Minuten in diesem Laden. Und natürlich war wieder einmal alles umgeschlichtet worden. Wo in der vergangenen Woche noch die Shampoos gestanden waren, baumelten jetzt Zahnbürsten, und das Waschpulver war überhaupt unauffindbar.
Lisa Kleinschmidt bugsierte den Einkaufswagen um eine Ecke und stieß prompt mit einer anderen Frau zusammen, die sie böse anfunkelte. »Verzeihung«, hörte sie sich murmeln, dabei hätte die andere doch genauso Grund gehabt, sich zu entschuldigen. Aber die rauschte nur vorbei in ihrem silbernen Steppmantel mit dem falschen Fuchspelzkragen, die dumme Gans. Wenigstens stand sie jetzt endlich vor dem Regal mit den Feinwaschmitteln, die angeblich jeden Fleck entfernen konnten, sogar bei dreißig Grad. Bloß in ihrer eigenen Waschmaschine funktionierte das nie. Irgendetwas mache ich falsch, dachte Lisa, nicht nur bei der Waschmaschine. Irgendwie wächst mir alles über den Kopf, ganz besonders die Miriam. Und jetzt kommt auch noch Weihnachten, du lieber Himmel! Früher hatte sie dieses Fest so geliebt. Als die Miriam noch klein war, hatten sie zusammen gebastelt und sogar Kekse gebacken. Die Kekse waren meist ziemlich krümelig ausgefallen, aber sie hatten doch köstlich geschmeckt. Sogar der Georg hatte daran geknabbert, dabei hielt er ihnen doch ständig Vorträge über die Gefahren von raffiniertem Zucker für den Zahnschmelz. Dann war der Max zur Welt gekommen und hatte schon als Baby jeden Morgen im Dezember mit seinen dicken Fingerchen andächtig ein Fenster im Adventkalender geöffnet. Und dann hatte sich der Georg in die Gundula verliebt, seine Sprechstundenhilfe, und alles war auseinander …
Plötzlich fiel ihr der Mann auf, der sie offenbar schon seit Minuten beobachtete, verstohlen zwischen den Weichspülerflaschen hindurch. Ein Detektiv, der sie für eine Ladendiebin hielt? Oder ein Verrückter? Egal, sie hatte sowieso bereits viel zu lang getrödelt und bittersüße Erinnerungen hochsteigen lassen wieder einmal. Im Institut wartete der Leichnam einer Frau auf sie, das war entschieden wichtiger. Der Leichnam einer blutjungen Frau, die
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