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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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schließen. Bestimmt wird auch ihre Lunge überbläht sein, da weiß ich in der nächsten Stunde mehr. Und dann sind da noch diese Abriebstellen, wenn man ganz genau schaut. Komm näher, Artur.«
    Er beugte sich ebenfalls über das kalte Gesicht. Auf den Wangen waren schwache Spuren zu erkennen, wie von einem groben Stoff, der ein Muster auf der zarten Haut hinterlassen hatte. Möglicherweise ein Kissen, das der jungen Frau aufs Gesicht gedrückt worden war, bis sie die Besinnung verlor.
    »Offenbar war sie nicht betäubt, sondern hat sich ordentlich zur Wehr gesetzt«, sagte Lisa, sie richteten sich beide wieder auf. »Hautfetzen habe ich keine unter ihren Nägeln finden können, bei diesem Wetter sind ja alle vermummt bis über die Ohren. Aber Spuren von einem grobfasrigen grünen Stoff, ich würde mal sagen, dass es Loden sein könnte. Ich habe die Probe schon ins Labor geschickt, allerdings wird das noch bis Montag dauern, bis sich die jemand anschaut.«
    Loden. Grüner Loden. Auf Teneriffa wäre das bestimmt eine Spur zum Täter gewesen, aber im Salzkammergut? Pestallozzi versuchte, nicht allzu enttäuscht dreinzuschauen. Er wusste, welche Mühe Lisa sich gab, die hier stand an diesem ersten Adventsamstag, um eine junge Frau zu sezieren, statt mit ihren Kindern durch die geschmückten Gassen der Altstadt zu bummeln.
    »Danke, Lisa, gut gemacht«, sagte Pestallozzi. »Vielleicht lässt sich der Lodenstoff ja näher bestimmen und man kann auf einen Hersteller schließen. Das würde uns schon ein ordentliches Stück weiterbringen. Ich gehe jetzt zurück ins Präsidium und …«
    »Artur, das war noch nicht alles.«
    Er hatte es geahnt. Befürchtet. Lisa hatte ihn nicht nur wegen ein paar Fasern von grünem Loden gebeten, zu kommen. Sie sah ihn an und wollte etwas sagen, aber dann schluckte sie nur. Er fühlte, wie Kälte über seinen Rücken kroch wie ein kurzer Schüttelfrost. Sie hatte sich wieder über die Tote gebeugt und zog nun langsam und vorsichtig das Tuch vom Körper. Kaltes Deckenlicht floss über nackte Haut. Er hätte sich gern abgewandt, aber das war unmöglich. Wenn Lisa das alles aushielt, dann würde er auch nicht kneifen. Niemals.
    Sie standen nebeneinander und blickten auf den nackten Körper der jungen Frau. Der jungen Frau ? Er hatte gewusst, dass es so etwas gab, aber er hatte es noch nie mit eigenen Augen gesehen. Einen Hermaphroditen. Einen Zwitter. Einen transsexuellen Menschen. Das Gesicht einer Frau auf den ersten Blick, mit dunklen Augenbrauen und einem üppig geschwungenen Mund. Perfekt geformte Brüste. Eine schmale Taille. Und ein daumengroßer Penis, der zwischen ihren – seinen – Schenkeln lag. Er hörte sich selber Luft holen, einen Atemzug lang, vor Überraschung und vor einem Gefühl wie … Erschrecken, er schämte sich selbst dafür.
    »Der Körper weist Vernarbungen im Analbereich auf«, sagte Lisa. »Offenbar ist sie schon als Kind vergewaltigt worden. Ich sage jetzt einfach mal sie . Die runden Narben auf den Armen stammen wahrscheinlich von Zigaretten, die man auf ihr ausgedrückt hat. Mehr kann ich noch nicht sagen.«
    Sie schwiegen beide. Draußen vor dem Seziersaal erklangen Schritte und entfernten sich wieder, zum Glück. Irgendwo weit weg war jetzt Advent. Und die ersten Besucher standen bestimmt schon rund um die Punschstände und prosteten einander mit Glühwein zu, bissen in Brezeln und Lebkuchen, kauften Barbiepuppen und Play-Stations für ihre Kinder. Und planten das Weihnachtsmenü. Karpfen oder gefüllte Gans? Beinahe wurde ihm schlecht. Lisa zog das Tuch wieder hoch und bedeckte damit den Körper und das Gesicht der jungen Frau.
    »Sei nicht böse, dass ich dich gebeten habe, allein herzukommen, Artur. Ich weiß, dass du genug zu tun hast. Aber ich wollte einfach …«
    Ich wollte jemanden an meiner Seite haben, der meine Gefühle teilt, wenigstens für ein paar Minuten. Dann bin ich wieder die kühle Medizinerin, die mit ruhiger Hand den ersten Schnitt setzen wird. Aber das zuzugeben, wäre ihr schrecklich unprofessionell erschienen.
    Was wir Menschen doch alles aushalten, dachte Pestallozzi. Nur ich kann wenigstens nach Hause gehen und die Tür hinter mir zumachen. Aber Lisa muss sich um ihre Kinder kümmern, kochen, Hausaufgaben kontrollieren und, das Anstrengendste von allem, lustig sein. Draußen auf dem Gang waren wieder Schritte zu hören, aber diesmal entfernten sie sich nicht. Kajetan steckte den Kopf zur Tür herein: »Können wir dann

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