Kalter Zwilling
Steuermark hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er vor Abschluss der Untersuchungen und Vorliegen des finalen Ergebnisses nicht aktiv werden würde.
Petra spürte, dass die ganze Last dieser Ermittlungen auf ihren Schultern lag. Sie fühlte sich dieser Situation nicht gewachsen. Natürlich ließ sie sich das nach außen hin nicht anmerken, aber es kostete sie viel Kraft und ihr Darm fuhr mittlerweile Achterbahn mit ihr. Heute Morgen hatte sie sich nur mit Hilfe von Schmerztabletten dazu überwinden können, aus dem Bett zu steigen.
Petra Ludwig lief durch einen langen, mit hellgrünem Linoleum ausgelegten Flur zum Vorlesungssaal. Sie lief schnellen Schrittes hindurch in das Hinterzimmer, das Professor Neuhaus als Büro diente. Obwohl er nicht, wie der Biologe Hans-Peter Mundscheit, in seinen privaten Wohnräumen ermordet wurde, kam ihr dieser Tatort vollkommen gleich vor. Er spiegelte dieselbe Brutalität und Kaltblütigkeit wider.
Sie brauchte gar nicht genau hinzuschauen. Petra wusste auch so, was sie vorfinden würde. Die Finger waren amputiert und diesmal vor dem Fenster auf einer Nylonschnur aufgehängt worden. Das Opfer lag auf dem Boden. Die Blutgefäße am Oberschenkel waren freigelegt und hingen schlaf herunter. Das Büro ähnelte einem Schlachtfeld. Die weißen Wände waren mit Blutspritzern übersät und unter der Leiche staute sich die rote Flüssigkeit zu einem See.
Professor Neuhaus war 65 Jahre alt gewesen und hatte kurz vor seiner Pensionierung gestanden. Er wirkte selbst im Tod noch gefasst. Zwar war sein Mund zu einem Schrei geöffnet, aber dieser glich eher einem erschrockenen »Oh« als einem panischen Schmerzenslaut. Petra sah genauer hin. Diesmal hatte der Mörder alle Finger amputiert. Das war merkwürdig.
Beim letzten Mal war sie davon ausgegangen, dass er die Lust an der Amputation verloren hatte. Sie dachte, es wäre für ihn wie ein Vorspiel, welches ihn vom eigentlichen Ziel abhielt. Demnach hätte er diesmal noch schneller vorgehen müssen. Nach Petras Lesart sollten weniger als acht Finger amputiert sein.
»Er hat es genossen. Es erinnert mich an den Mord an Sophia Koslow.« Ingrid Scholten stand im Türrahmen und brachte ihre Gummihandschuhe in die richtige Position. Petra versuchte, ihre Worte nachzuvollziehen. »Warum hat er es beim letzten Mal nicht genossen?«
»Wenn wir es hier mit einem eiskalten Mörder zu tun haben, der Spaß daran hat, seine Opfer leiden zu sehen, dann ist es für ihn eine größere Herausforderung, wenn sie nicht so schnell aufgeben.«
Petra nickte. Vielleicht hatte Ingrid Scholten recht. Sophia Koslow war eine Prostituierte, das Leben hatte sie mit Sicherheit hart gemacht. Professor Neuhaus‘ Leiche wirkte wie die eines Indianers, der mit Würde durch die Folter und in den Tod gegangen war. Petra versuchte, sich an das Gesicht des zweiten Opfers, Hans-Peter Mundscheit, zu erinnern. Es war zu einem grauenvollen Schrei verzerrt gewesen.
Petra betrachtete die präparierte Haut auf dem Oberschenkel der Leiche. Es war präzise Arbeit.
»Wenn ich mich richtig erinnere, wurden die Schnitte bei Hans-Peter Mundscheit nicht mit dieser Sorgfältigkeit ausgeführt. Ich werde im Labor prüfen, ob es sich immer noch um denselben Täter handelt. Aber ich gehe davon aus.« Ingrid Scholten klappte ihren silbernen Koffer auf und machte sich mit einem kleinen Pinsel am Schreibtisch des Opfers zu schaffen.
»Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Spuren vom Täter finde. Aber man weiß ja nie.«
Petra machte sich keine Hoffnungen darauf. Der Täter war kontrolliert und gefühlskalt, da war sie sich sicher. Bisher hatte sie immer noch keinen Zusammenhang zwischen den ersten beiden Opfern entdeckt. Aber der Biologe und das neue Opfer waren beide an der Universität zu Köln tätig. Vielleicht hatten sie einmal zusammengearbeitet. Das musste Petra unbedingt herausfinden. Sie lief zurück auf den Flur und sprach eine junge Ärztin in einem weißen Kittel an, die erschrocken einen Schritt zurückwich. »Wo finde ich die Klinikverwaltung?«
...
Anna Winterfeld kramte auf dem Dachboden ihrer Mutter in einem Karton. Emily saß direkt neben ihr.
»Schade, dass wir nicht einfach zu diesem gruseligen Alten ins Stadtarchiv nach Zons fahren können.« Emilys Stimme klang genervt. Sie mochte es nicht, wenn sich die Dinge in die Länge zogen. Ihre Reportage hatte zwar schon ein ordentliches Ausmaß angenommen, aber ihr fehlten weitere
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