Kalter Zwilling
Praxisfälle.
Annas Mutter, die als Krankenschwester bereits in mehreren psychiatrischen Kliniken tätig gewesen war, hatte diverse Berichte über deren Insassen gesammelt. Teilweise waren die Zeitungsartikel über zwanzig Jahre alt und das Material war thematisch sortiert. Eigentlich sollten sie schnell vorankommen, aber Emily hatte das Gefühl, dass ihr immer noch das Salz in der Suppe fehlte.
»Im Mittelalter gab es das Wort Psychopathen noch gar nicht. Wir könnten höchstens weitere Mordfälle heraussuchen und analysieren, ob der Mörder ein psychopathisches Persönlichkeitsprofil hatte.« Annas Stimme klang vor Anstrengung heiser. Sie hatte mittlerweile einen riesigen Stapel alter Zeitungsausschnitte durchgeblättert.
»Ich weiß«, seufzte Emily. »Aber wir können im Nachhinein ja keinen Hare-Test mehr anwenden und ich will nicht, dass meine Reportage wie ein Bericht aus den Klatschspalten wirkt.«
Anna nickte. Sie hatte sowie keine Lust, ins Stadtarchiv zu gehen. Der Kreisarchivar Dietrich Hellenbruch war ihr suspekt. Mehr als einmal hatte sie sich wie ein kleines Mädchen vor ihm gefürchtet. Ein Gedanke an Bastian Mühlenberg blitzte plötzlich in ihrem Kopf auf. Dort im Stadtarchiv hatte sie ein Porträt von ihm entdeckt, welches heute in ihrer Nachttischschublade lag. Manchmal betrachtete sie es, bevor sie einschlief. Vielleicht konnte sie noch mehr über Bastian Mühlenberg herausfinden, wenn sie wieder im Stadtarchiv recherchierten. Lautes Klimpern unterbrach Annas Traumwelt. Goldene und silberne Münzen purzelten aus einem alten ledernen Buch und verteilten sich klirrend über dem Boden.
»Die sind ja alt. Wo hat deine Mutter die her?«
Anna zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich wusste nicht einmal, dass sie sich überhaupt für Münzen interessiert, geschweige denn welche besitzt.«
Sie nahm eine helle Goldmünze in die Hand. Ein Mann, wahrscheinlich ein Heiliger mit einem Schlüssel und einem Buch in der Hand, war auf der einen Seite der Münze zu erkennen. Anna versuchte die Inschrift zu entziffern, aber sie war viel zu undeutlich. Sie hielt die Münze vor Emilys Nase. »Hier, du kannst doch alte Schriften entziffern. Was steht dort?«
Emily starrte angestrengt auf die Inschrift. »Keine Ahnung. Die Münze sieht jedenfalls uralt aus und ist völlig abgenutzt.« Achtlos steckte sie die Münze in das Lederbuch zurück.
»Vielleicht hast du recht. Wir sollten dem kauzigen Archivar noch einen Besuch abstatten. Wenn wir einen interessanten Mordfall entdecken, könnte ich Professor Morgenstern bitten, den Täter für uns zu analysieren. Das ersetzt zwar keinen echten Hare-Test, aber immerhin ist das Urteil eines bekannten deutschen Klinikleiters so etwas wie ein wissenschaftlicher Ansatz.«
...
Das Kreisarchiv lag in der Schloßstraße 1 mitten in Zons und hatte sich seit ihrem letzten Besuch nicht verändert. Dietrich Hellenbruch stand hinter seinem Tisch und schob seine dicke Hornbrille den Nasenrücken hinauf. Eine graue, fettige Haarsträhne fiel ihm dabei ins Gesicht und er strich sie hastig nach hinten.
»Guten Morgen, meine Damen. Sind Sie mal wieder auf der Suche nach Unholden aus der Vergangenheit?« Seine Stimme klang freundlich.
Emily trat einen Schritt vor und begrüßte den schrulligen Alten. »Wir wollten herausfinden, ob es weitere Morde in Zons gab, die sich im fünfzehnten Jahrhundert ereignet haben. Wir sind auf der Suche nach psychopathischen Täterprofilen.«
Der Kreisarchivar schluckte. »Sie sind auf der Suche nach was?« Er blickte Emily durchdringend an. Dieses junge hübsche Ding hatte offensichtlich eine enorm dunkle Seite. Alle paar Monate stand sie hier bei ihm, in seinem Archiv, und wollte neue Gruselgeschichten hören. Dietrich Hellenbruch hatte nicht die geringste Ahnung, was sie mit einem psychopathischen Täterprofil meinte. »Sie bekommen wohl einfach nicht genug, junge Dame. Ich habe Ihnen alles über den Puzzlemörder erzählt und auch über den Missetäter, der seine Opfer mit einer goldenen Sichel tötete. Ihretwegen bin ich mehr als einmal in Schwierigkeiten geraten!« Wehmütig dachte Dietrich an das Porträt von Marie Mühlenberg, dem Weib des Soldaten der Zonser Stadtwache und daran, wie die Kriminalpolizei dieses Bild für ihre Ermittlungen beschlagnahmt hatte. Es hatte ihn Monate gekostet, es zurückzubekommen. Viel schlimmer war jedoch die Tatsache, dass er seine lebende Marie nicht mehr sehen durfte. Bevor Emily Richter mit
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