Kalter Zwilling
herzensguter Mensch voller Wärme.« Er schüttelte den Kopf. »Wie können die beiden nur so unterschiedlich sein?«
»Er ist der kalte Zwilling!«, entgegnete Bastian und öffnete die Tür zu Augusts Kerkerzelle.
Ungläubig suchten seine Augen den Raum ab. Er war leer. Bastian spürte, wie der Schock seine Gedanken lähmte. Schnell zog er den Schlüssel hervor und öffnete die Nachbarzelle, in der Gilig gefangen gewesen war.
»Oh nein!« An der Wand lag eine zusammengekrümmte Gestalt. Sie atmete nicht mehr. Bastian drehte sie herum und der Pfarrer bekreuzigte sich erneut. Vor ihnen lag Gilig. Sein Gesicht war blau angelaufen. Eine Schlinge schnitt tief in seinen Hals. Die Hände waren gefesselt. Neben ihm lag eine goldene Münze. Bastian nahm sie in die Hand. Ein stehender Petrus, mit dem Himmelsschlüssel in der einen und einem Buch in der anderen Hand, blickte ihn an. Ein Fetzen Papier lugte unter der Wange des Toten hervor. Pfarrer Johannes hob es auf und las vor: »Sucht nicht nach mir. Ihr habt nichts zu befürchten.«
Bastian schlug wütend mit der Faust gegen die Wand. Sie hatten die Täuschung nicht bemerkt und August somit zur Flucht aus der Stadt verholfen. Er hatte sich in Giligs Kleidern und unter der Kapuze verborgen. Aber wie war er aus der Zelle entkommen? Das konnte er unmöglich alleine geschafft haben.
»Wer hatte heute Wachdienst?« Bastian war außer sich.
Pfarrer Johannes legte einen Arm auf seine Schulter und deutete mit dem Finger auf Augusts Nachricht. »Lasst es gut sein, Junge. Ich glaube ihm diese Worte und letztendlich hat er Euer Leben gerettet.«
»Aber er ist ein Mörder!« Bastian fluchte lauthals.
»Gott wird sich seiner annehmen.« Pfarrer Johannes bekreuzigte sich ein weiteres Mal.
Bastian tobte noch eine Weile und erinnerte sich plötzlich an die Nacht, in der er von Anna geträumt hatte. Er sah den weißen Gang vor sich, mit den makellos glatten Wänden und dem Boden, der wie dunkles Wasser aussah. In seiner Erinnerung tauchte ein blasses Gesicht mit grünen Augen auf. Ein gealtertes Gesicht. Wahrscheinlich hatte Pfarrer Johannes recht. Das Schicksal des Zwillings war längst besiegelt. Er, Bastian, konnte nichts daran ändern. Mit oder ohne seine Hilfe würde die Geschichte ihren vorherbestimmten Lauf nehmen.
Er kniff die Augen zusammen und versuchte, Annas Antlitz heraufzubeschwören. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als es ihm gelang. Anna! Dies war sein letzter Gedanke, bevor er den Juddeturm verließ. Er verdrängte alles andere und hielt sich ihr Gesicht vor Augen, bis er einschlief und sie in seinen Träumen lebendig wurde. Es würde keine weiteren Morde dieses Wahnsinnigen in Zons geben. Dieser Fall war beendet. Das Leben ging weiter.
XVI.
Gegenwart
Hans Steuermark war außer sich. Sein Chef hatte ihn zu einer Pressekonferenz verdonnert, auf der die Journalisten ihn auseinandergenommen hatten wie einen Schwerverbrecher. Er hasste die Presse. Man konnte nie vorsichtig genug sein. Jedes Wort wurde einem im Mund umgedreht und unter Umständen gegen einen verwendet. Wütend lief er in seinem Büro auf und ab. Auf den Teppichfasern hatte sich bereits ein Trampelpfad eingegraben und Oliver wunderte sich zum wiederholten Male darüber, dass nicht längst die alten Holzdielen zum Vorschein kamen, die unter diesem Teppich lagen.
Steuermark war ein großer, hagerer Mann mit braunen Adleraugen, die es schafften, Menschen mit bloßen Blicken Befehle zu erteilen. Oliver kannte viele Kollegen, die sich insgeheim vor Steuermark fürchteten, doch er selbst wusste, dass der Leiter des Kriminalkommissariats ein herzensguter Mensch war. Die Erinnerung an die Versetzung nach Frankfurt an der Oder lag Oliver zwar immer noch schwer im Magen. Aber er verstand Steuermarks Gründe für diesen Schritt und bewunderte die Charakterstärke, mit der sein Chef auch schwierige und unpopuläre Entscheidungen traf.
»Professor Morgenstern hat den Kreis unserer drei Verdächtigen vorerst auf Kevin Helmhold eingegrenzt. Über die Studentin Alex Schimpski wollte er sich ohne ein persönliches Gespräch mit ihr nicht äußern. Die Informationslage auf dem Papier ist einfach zu dünn. Ronny Hammerschmidts Persönlichkeitsprofil weist keinerlei psychopathische Merkmale auf. Zudem fehlt das Tatmotiv und auch der Mörder der Prostituierten aus St. Paul ist mittlerweile in Gewahrsam. Er konnte eindeutig anhand von DNA-Spuren überführt werden.«
»Warum haben unsere
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