Kalter Zwilling
Leibeskräften. Derselbe Kerl, der ihm als Kind die Lust am Töten beibrachte, hatte ihm auch diesen Trick gezeigt. August wusste jahrelang nichts damit anzufangen, doch als das Paket mit den Goldgulden aus ihm herausflutschte, hatte er den Wert dieses Rates begriffen. Das war der letzte Teil gewesen. Zwar hatte Bastian Mühlenberg ihm den Sack mit den Goldgulden abgeluchst, aber er hatte sich vorher die Kleider mit Münzen vollgestopft und es geschafft, sie bis jetzt vor ihm zu verbergen.
Er drehte einen Goldgulden im Mondlicht vor seinem Gesicht hin und her. Dieser kleine Freund würde ihm zur Flucht verhelfen. Zwar hatte Bastian sein Versprechen gehalten und niemandem von Augusts wahrer Schuld erzählt, doch er wollte ihn trotzdem für immer im Juddeturm einsperren. Er könne keinen Mörder frei herumlaufen lassen! Wie Hohn hallten diese Worte in Augusts Kopf nach. Schließlich hatte er zwei Leben gerettet. Blieb nur noch eines übrig, welches er sühnen musste. Aber davon wollte Bastian Mühlenberg nichts hören. Nun, der würde sich noch wundern.
Schon hörte er die Schritte des Wärters auf der Treppe. Die Tür öffnete sich und ein unrasierter, stinkender Mann lugte durch den Spalt herein. August warf den Gulden hoch in die Luft, fing ihn klatschend wieder auf und lachte.
...
Die Nacht war von feuchtem Nebel durchzogen. Mondlicht spiegelte sich auf dem Wasser des Hafenbeckens, als das Handelsschiff »Johanna« sich zur Weiterfahrt bereit machte. Bastian führte die bucklige Gestalt mit der Kapuze über dem Kopf vorsichtig auf die Holzplanken des Schiffes. Der Bucklige bewegte sich wie immer erstaunlich geschmeidig für seine Behinderung. Bastian hievte ihn in den Lagerraum hinunter und flüsterte: »Nehmt die Kapuze erst ab, wenn Ihr auf dem Rhein seid. Niemand darf Euer Gesicht sehen!«
Dann gab er dem Kapitän einen Wink und sprang vom Schiff. Der Kapitän wankte leicht. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht mit dem Weinfass verbracht, das Bastian ihm als Bezahlung überlassen hatte. Pfarrer Johannes stand am Rand des Hafenbeckens und bekreuzigte sich. Der alte Mann hatte tiefe Ränder unter den Augen.
»Werden sie nach ihm suchen?«, fragte Bastian, während er das Seil vom Beckenrand löste.
Pfarrer Johannes zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Außerdem verwischen wir seine Spuren, indem wir ihn zuerst über den Rhein schicken.«
Er holte die Bibel, die er bei der Leiche des hageren Mannes gefunden hatte, hervor und strich über die Initialen, die in den Einband graviert waren.
»A.W.«
Die Buchstaben standen für Anton Wolfrath, ein ehemaliger Gefolgsmann des Kölner Erzbischofs Hermann von Hessen. Vor zwei Jahren war er wegen Diebstahls seines Amtes enthoben worden. Pfarrer Johannes hatte sich genau erkundigt. »Nein«, wiederholte er, »der Erzbischof wird gewiss nicht nach ihm suchen. Er wird froh sein, wenn Anton Wolfrath für immer aus seinem Leben verschwindet.« Er seufzte.
»Ich meinte Gilig. Werden die Leute nach dem Buckligen suchen?« Bastian warf das Seil einem Schiffsjungen zu und drehte sich zu Johannes um.
Dieser kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ach, Ihr meintet Gilig? Ich befürchte, ja. Die meisten Zonser wollen ihn am Galgen sehen. Keiner glaubt an seine Unschuld. Ich werde mir eine gute Erklärung für sein Verschwinden ausdenken müssen.«
Langsam trotteten die beiden zurück. Es war bitterkalt und der Wintereinbruch stand kurz bevor.
»Euer Kind wird ein Sohn des Frühlings sein!«, wechselte Pfarrer Johannes plötzlich das Thema.
»Oder eine Tochter!« Bastian strahlte bei diesen Worten über das ganze Gesicht. Marie war wohlauf. Josef Hesemann hatte sie gründlich untersucht. Ihr und dem Kind ging es bestens.
Sie schritten über den Schlossplatz und lenkten ihre Schritte in Richtung Juddeturm.
»Meint Ihr, dass es Gilig bei Bruder Anselmus gefällt?«, fragte Bastian, in Gedanken immer noch bei den Geschehnissen der letzten Stunden.
»Nun, das Kloster Brauweiler ist für seine gute Küche bekannt. Ich denke, er wird sich schnell einleben.« Pfarrer Johannes blieb vor dem Juddeturm stehen. »Ich bin sehr froh, dass Bruder Anselmus sich bereit erklärt hat, dieser verlorenen Seele zu helfen.«
Bastian nickte. »Was machen wir mit August? Ich schulde ihm das Leben von Marie und mein eigenes, aber trotzdem ist er ein Mörder. Seine Seele ist kalt.«
Johannes legte seine alte Hand auf das Treppengeländer. »Sein Bruder Christan ist ein
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