Kaltes Herz
beschäftigt, dass ein Fremder sie verfolgte.
«Haben Sie denn nicht die Polizei verständigt?», wollte Charlie wissen.
Fräulein Keller schüttelte den Kopf, eine schwarze Locke rutschte unter ihrem Hut hervor und fiel ihr über die rechte Hälfte des Gesichts.
«Er schaut immer nur. Mit diesem ernsten Gesicht und einem Ausdruck …» Henriette unterdrücke ein Schaudern. «Und jetzt deuten Sie mir an, dass dieser Mann ein Verbrecher ist, und machen mir noch mehr Angst!»
«Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht ängstigen.»
Natürlich wollte er das nicht. Charlie hätte mit diesem Unsinn gar nicht erst anfangen sollen.
Sie überquerten den Kanal, bogen noch zweimal ab und erreichten schließlich ein prächtiges Haus in der Brüderstraße, Hausnummer sieben. Henriette Keller blieb stehen.
«Hier wohne ich.»
Sie reichte Charlie die Hand. Ihre Hände waren ihm schon aufgefallen, als sie auf der Bühne gestanden hatte und als sie ihm die Münze geben wollte. Sie waren ungewöhnlich groß für eine junge Frau, und sie setzte sie auf eine Weise ein, mit entschlossenen, ausdrucksstarken Gesten, die spontan erschienen, ganz von Emotion gesteuert, und zugleich so exakt, als handele es sich bei jeder Bewegung um ein tausendmal wiederholtes Ritual. Normalerweise wusste Charlie zu sagen, ob ein Sänger oder Schauspieler seine Gesten einstudierte. Bei Henriette Keller wusste er es nicht.
«Auf Wiedersehen und vielen Dank für die Begleitung», sagte sie.
Ihr Händedruck war fest und verbindlich und gab Charlie den Mut, einen Schritt weiter zu gehen.
«Wann verlassen Sie morgen das Haus?»
«Warum wollen Sie das wissen?»
«Ich werde hier sein und Sie begleiten. Nur zur Sicherheit.»
«Oh, ich fürchte … Ihre Geschichte würde meine Mutter sehr beunruhigen. Ich möchte nicht …»
«Nun, dann treffen wir uns an der Friedrichsgracht an der kleinen Brücke, über die wir vorhin gekommen sind.»
Plötzlich erschienen die Grübchen wieder auf Fräulein Kellers Wangen. In diesem Augenblick wirkte sie wie ein Kind, und nur einen Moment später schien wieder die ganze Tiefe des Kosmos in ihren Augen zu liegen. Sie war ein Rätsel. Ein wunderschönes, rührendes Rätsel.
«Einverstanden», sagte sie. «Aber morgen habe ich frei und werde zu Hause bleiben. Mittwoch früh also. Acht Uhr.»
Charlie verbeugte sich tief.
«Ich werde zur Stelle sein.»
«Sie sollten nur vielleicht ein wenig angemessenere Kleidung wählen? In diesem Aufzug sind Sie als mein Begleiter doch sehr auffällig.»
«Selbstverständlich, das werde ich.»
Fräulein Keller wandte sich um, drückte die Eingangstür des Hauses auf und verschwand in dem von gelber Elektrizität beleuchteten Treppenhaus.
Charlie ging gemessenen Schrittes die Straße entlang, bis er gewiss war, außer Sicht zu sein. Erst dann begann er zu rennen wie ein Junge, außer sich und unfähig, sein Glück zu fassen. Er war mit Henriette Keller verabredet!
Dann wurde er langsamer. Er musste Ruhe bewahren, nachdenken. Sich ausschlafen. Er hatte einen Tag Zeit. Einen Tag, um eine Unterkunft zu finden. Sich einzukleiden. Er hoffte inständig, dass sie seine aufschneiderische kleine Lüge bis Mittwoch vergessen hatte.
Was für ein Tag. Erst die Brieftasche, dann diese Begegnung mit ihr. Und ihr Gesang. Nicht zu vergessen der Mann mit dem Opernglas … Musste das alles nicht etwas zu bedeuten haben? War es möglich, dass das Leben ihm von einem Moment auf den anderen eine echte Aufgabe zugewiesen hatte? Er war unwichtig, sein Talent war eines unter vielen. Doch sie war reine Magie, sie würde weltberühmt sein. Und er würde alles tun, um ihr den Weg zu bereiten!
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2
F räulein Henriette?»
Henriettes Blick hing an der Baumspitze vor dem Fenster von Professor Altheims Studierzimmer. Sie wiegte sich sanft im stetigen Regen, die Blätter waren hell und fedrig wie die Flügel eines jungen Vogels.
«Henriette, wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken!»
Henriette fuhr zusammen, beinahe hätte sie einen unordentlichen Notenstapel vom Deckel des Flügels gewischt. Das mit Mappen, Büchern und Möbeln vollgestellte Zimmer kam ihr plötzlich stickig vor, und sie hätte gerne das Fenster geöffnet und den Regen gerochen.
«Wir sind bei As-Dur, die Kadenz bitte.»
Henriette richtete sich auf, dosierte den Atem, sang ein langgezogenes Es, ein C, ein As. Und dann setzte sie höher an, ein E, und dann erst As und Es.
Professor Altheims Blick blieb an ihr haften,
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