Kaltes Herz
scheint weiter nichts zu wollen. Aber dennoch, es ist unheimlich!»
«Müssen Sie denn unbedingt allein nach Hause gehen?»
«Normalerweise holt meine Mutter mich ab. Es ist nicht weit, wissen Sie.»
Fräulein Keller wirkte plötzlich traurig, und Charlie merkte, dass er sie beschützen und trösten wollte. Er hatte keine Hintergedanken dabei, erwartete sich keinen Vorteil, Henriette Keller war unerreichbar und unantastbar wie der einzige Stern an diesem seltsam leeren Himmel, den er gesehen hatte, als sie gesungen hatte. Alles, was er wollte, war, sie wieder singen zu hören.
«Erlauben Sie mir, dass ich Sie nach Hause begleite?»
«Bitte entschuldigen Sie», sagte sie noch einmal. «Ich wollte Sie nicht ausnutzen. Ich werde eine Droschke nehmen.»
Sie griff mit ihren weiß behandschuhten Händen nach seiner bloßen Hand, drehte sie herum und ließ eine Münze hineingleiten.
«Ich danke Ihnen.»
Charlie blickte das Geld an. Dann schüttelte er lachend den Kopf und gab es zurück.
Henriette Keller sah ihn verwundert an.
«Nein, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Fräulein Keller. Ich mag wie ein armer Schlucker aussehen, aber ich bin durchaus keiner. Ich bin …» Was sollte er sagen? Er wollte nicht lügen, aber die Wahrheit war viel zu kompliziert. Er entschloss sich für die halbe Wahrheit. «Ich bin in einer geheimen Mission unterwegs, die eine gewisse Tarnung erfordert.»
Charlie verlor keinen Gedanken daran, wie es mit dieser Geschichte weitergehen sollte. Es war auch nicht wichtig. Hauptsache, er konnte noch ein wenig länger in ihrer Nähe sein.
Henriette Keller sah ihn halb zweifelnd, halb amüsiert an, und er stellte fest, dass dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht ihm eine Mischung aus Freude und Furcht bescherte, ein Gefühl, das er noch nicht erlebt hatte beim Anblick eines Gesichts. Wie konnte es in dieser dunklen, nassen, kalten Stadt bloß ein solches Gesicht geben?
«Tarnung? Sind Sie sich da sicher?»
«Wenn Sie mir erlauben, Sie nach Hause zu begleiten, will ich es Ihnen erklären.»
Fräulein Keller zögerte, und Charlie konnte es ihr nicht verdenken. Er wartete und versuchte, nicht allzu begierig auszusehen. Er wollte nicht, dass sie ihm schlechte Absichten zutraute.
«Nun gut», sagte sie schließlich. «Gehen wir zu Fuß. Wie gesagt, es ist nicht weit. Nur bis in die Brüderstraße.»
Charlie verbeugte sich formvollendet.
«Dann darf ich mich vorstellen. Mein Name ist Charles Peter Jackson. Ich bin aus beruflichen Gründen in Berlin. Ursprünglich komme ich aus London.»
Sie lächelte, ihre Wangen waren gerötet, und ihre Brust hob und senkte sich so schnell, als sei sie gerannt, während sie eine Weile schweigend nebeneinander herliefen. Charlie spürte ihre nervöse Aufregung. Genoss sie seine unkonventionelle Begleitung als eine Art Abenteuer? Erschien er fragwürdig genug, um sie den Reiz der Gefahr spüren zu lassen?
Auch Charlie fühlte sich atemlos. Er wollte ihr gefallen, und er wusste, wie wenig wahrscheinlich es war, dass ihm das gelang.
Sie sah ihn von der Seite her an. Sie besaß nicht nur die schönste Stimme, sondern auch das faszinierendste Paar Augen, das Charlie je gesehen hatte.
«Nun?», fragte sie schließlich.
Charlie räusperte sich. Er brauchte eine Geschichte. Jetzt. Eine Geschichte … wenn sie Abenteuer liebte, sollte er ihr vielleicht eines bieten.
«Jener Mann mit dem Opernglas – ich beobachte ihn schon seit einiger Zeit. Er ist eine Schlüsselfigur. Wir sind kurz davor, tiefer in gewisse Kreise vorzustoßen. Ich darf Ihnen nicht viel mehr darüber sagen.» Charlie blickte Henriette Keller eindringlich an. «Es muss für den Moment genügen, Ihnen zu vermitteln, dass dieser Mann nicht ungefährlich ist. Und wichtiger als die Dinge, in die er verstrickt sein mag, ist die Frage: Haben Sie eine Idee, was dieser Mann von Ihnen wollen könnte?»
Henriette Keller schüttelte entschieden den Kopf.
«Das habe ich ganz sicher nicht! Er ist nach der Wiedereröffnung erstmals im
Wintergarten
aufgetaucht. Seitdem ist er da. Jeden Abend, an dem ich Vorstellung habe.»
«Hat er Sie jemals angesprochen?»
«Nein!»
Wieder gingen sie ein paar Schritte schweigend, bis Henriette Keller nach links wies und sie in die Französische Straße einbogen. Hier war bereits weniger Betrieb, und als sie die Unterwasserstraße erreichten, bewunderte Charlie den Mut, mit dem Fräulein Keller hier im Dunkeln allein entlanggegangen sein musste, mit der Möglichkeit
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