Kaltes Herz
bittere, süße Getränk beinahe verschüttet hätte, aber als sie einige Schlucke getrunken hatte, fühlte sie sich etwas besser.
«Entschuldigung», sagte sie. «Ich fürchte, ich habe nicht ordentlich gefrühstückt.»
Der Professor sah sie aufmerksam an. «Kann ich ganz offen mit Ihnen sprechen?»
Henriette nickte.
«Ich habe beobachtet, dass Sie gelegentlich von einem jungen Mann begleitet werden.»
«Oh, ja. Das ist Charlie Jackson. Er …» Sie wollte nicht darüber reden, warum er sie begleitete. Sie wusste nicht, warum, aber sie hatte das Gefühl, dass es besser war, darüber zu schweigen. «Ich kenne ihn vom Theater.»
«Ich habe auch bemerkt, dass er recht ansehnlich ist.»
«So, ist er das?»
Henriettes Stimme klang hoch und dünn.
«Und ich sehe auch, dass Ihre Wangen in letzter Zeit röter sind als sonst.»
Henriette lachte, aber es klang schrill in ihren eigenen Ohren.
«Weiß Ihre Mutter von diesem jungen Mann?»
Henriette beobachtete die regenbogenfarbenen Schlieren, die auf ihrem Tee schwammen, und stellte die Tasse weg.
«Ich fürchte, dass die Geschichte sie aufregen wird.»
«Welche Geschichte denn, Henriette?», fragte der Professor sanft und legte ihr eine Hand auf den Arm.
Seine alten Augen blickten freundlich, und einen Moment lang war sie versucht, sich dem Professor anzuvertrauen. Doch sie entschied sich dagegen. Es war beschämend, dass sie die Aufmerksamkeit jenes Fremden auf sich zog, eine Aufmerksamkeit, die mit einem amoralischen Ansinnen einhergehen konnte, über die Henriette vielleicht mit einem Arzt oder Pfarrer, aber sicher nicht mit ihrem Gesangsprofessor sprechen konnte.
Als sie nichts sagte, fuhr der Professor fort.
«Sie sind kein Kind mehr, Henriette, und ich hoffe für Sie, dass Sie Ihren Verstand beisammenhalten.»
«Wie meinen Sie das?»
«Dieser kleine Schwächeanfall eben, ich will da nichts hineindeuten, aber … Sie verstehen …»
«Nein, ich fürchte, ich verstehe nicht.»
«Nicht?»
Henriette schüttelte den Kopf.
Der Professor begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, Notenblätter umzudrehen, Bücher hin und her zu rücken, so als suche er darunter nach den richtigen Worten. Als er sie gefunden hatte, blieb er stehen und wandte sich zu Henriette um.
«Nun, ich bin ein alter Mann, und Sie werden mir verzeihen, wenn ich jetzt Dinge hervorhole, die man sonst besser im Schrank stehenlässt. Sie wissen, wovor eine junge Frau sich hüten muss, wenn sie nicht als ledige Mutter enden will?»
Henriette schoss das Blut in den Kopf. Natürlich wusste sie es. Nicht im Einzelnen, natürlich nicht, aber genug, um zu begreifen, dass ihr Gesangslehrer im Begriff war, unaussprechliche Dinge zu äußern.
«Ich fürchte, ich muss jetzt gehen, Herr Professor», sagte sie und stand eilig auf. Sie wollte sich nicht hinreißen lassen, ihren Zorn zu zeigen. Wofür hielt er sich? Vielmehr: Wofür hielt er
sie
?
Henriette nahm ihr Schultertuch, vergaß den Hut und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.
Auf der Straße blieb sie unschlüssig stehen. Charlie Jackson würde sie erst in gut einer Stunde hier vor der Tür abholen. Was, wenn der Fremde in der Nähe war? Nein, er würde auch erst in einer Stunde mit ihr rechnen. Sie war frei, wenigstens für diese eine Stunde. Sie würde die Zeit nutzen und sich die Wut aus dem Leib laufen, ebenso wie die Gedanken, die sie nicht denken wollte. Lieber wollte sie an Musik denken. Diese Akkordprogression, die so selbstverständlich zu ihr gefunden hatte. Die Sehnsucht, die darin lag … Wenn sie es doch nur benennen könnte! Henriette stapfte durch den Regen, das Haar klebte ihr nass an der Stirn und im Nacken, aber sie achtete nicht darauf. Einsamkeit überwinden, dachte sie. Aber welche Einsamkeit denn? Ich habe meine Mutter, ich habe die Leute im
Wintergarten
… Warum war da dieses Gefühl, etwas verloren zu haben, das sie nie besessen hatte? Warum war da plötzlich dieser Drang … Wonach? Dieser Drang … Henriette lief durch eine Pfütze, spürte die Nässe, die in ihre Schuhe drang. Schuld war nur der Professor!
Er
hatte ihr diesen Gedanken an unaussprechliche Dinge in den Kopf gesetzt.
Er
hatte ihr unterstellt, dass sie … dabei kannte sie Charlie doch kaum. Sie wusste nichts über ihn, er war, wie jener andere Mann im Schatten, ebenfalls ein Fremder. Ein geheimnisvoller Fremder. Und doch, es fühlte sich so natürlich und vertraut an, mit ihm zusammen zu sein. Und es stimmte, er war … ein schöner Mann.
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