Kaltstart
gesagt, er hätte doppelt so viele Romane schreiben können, wenn er schon als junger Autor ein Laptop gehabt hätte. Jetzt würden manche es für ein Unglück halten, wenn Marquez seine Produktion wirklich hätte verdoppeln können, aber rein faktisch gesehen ist diese Aussage eher noch untertrieben. Natürlich war meine neue Schreibmaschine ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem mechanischen Hackwerk meines Vaters, das ich vorher benutzt hatte, und die mit ihren sich ständig verhakenden Typenbügeln eine materielle Versinnbildlichung des Begriffs “Buchstabensalat” war. – Das graue Plastikgehäuse der AX–10 sieht heute so schmierig gelb aus, als habe sie zehn Jahre im Arbeitszimmer eines Kettenrauchers gestanden. Das Gerät ist ein Wrack, aber ein solides Wrack. Es funktioniert tadellos. Vor allem meine Fingerspitzen erinnern sich gern an die gut balancierte Tastatur mit ihren ergonomischen Tastenmulden; einzig der kleine grüne Knopf zum Umschalten der Buchstabenspationisierung (noch ein elektronisches Feature!) ist ein bisschen schwergängig: Spritzer schwer gesüßten Vanilletees (ich weiß, ich weiß) verklebten sie einst auf Dauer. Wenn man die Maschine an dem dazu bestimmten Griff tragen will, klappt die Abdeckung der Walze herunter, aber das ist ja nicht weiter schlimm. Nein, die Maschine funktioniert tadellos. Ich würde nur keinen Text mehr darauf schreiben, der länger als zehn Zeilen ist, es sei denn, man zwingt mich dazu. Ich habe noch 1993 meine Magisterarbeit darauf geschrieben, weil ich da noch immer keinen richtigen PC mit allem drum und dran besaß. Die Magisterarbeit war mit Anhang 105 Seiten lang, und ich denke, das reicht. Microsoft Word ödet mich an, aber ich verspüre im Rückblick auf die Brother AX-10 doch eine gewisse Erleichterung darüber, dass Microsoft Word existiert, eine Erleichterung, die von echter Dankbarkeit nicht allzu weit entfernt ist.
Die Druckgrafik, die ich zusammen mit der Brother AX-10 kaufte, heißt übrigens “Die Rätselmaschine”. Ungelogen. Es handelt sich um Exemplar 85 von hundert Abzügen, und der Künstler hört auf den Nachnamen “Werner”. Ich glaube, er kam aus der Tschechoslowakei. Das Beiblatt, das mir der Kunsthändler zu dem Druck mitgegeben hat, habe ich verloren, und so weiß ich über Künstler und Werk sonst nichts. Das Bild gefällt mir heute noch. Es war schon immer in meiner Wohnung. Es soll auch noch ein wenig dort bleiben.
Dann kamen die Computer, und mit Macht; sie kamen zweifach, oder kurz hintereinander. 1986. Ich war in eine “WG” gezogen. Dort lebten außer mir noch zwei andere Studenten, von denen einer genauso wenig studierte wie ich und der andere nicht ganz dicht war. Der zweite Unstudent hieß Georg, und der Neurotiker hieß Rafael. Rafael hatte einen Nymphensittich namens “Piepsi”, der markerschütternd durch die Wohnung schrie und von seinem Herrchen auch in die Küche mitgenommen wurde, wo er von der Küchenlampe auf den Küchentisch herunterkacken durfte. Rafael hängte überall in seinem Zimmer die Bilder von lächelnden Babys auf und er befestigte auch ein lächelndes Baby auf die Kühlschranktür. Ihm war ein Lächeln im Gesicht festgebacken, das mich schauderte. So sind die Fakten. Vielleicht bin ich unfair. Wir waren damals alle miteinander nicht ganz dicht, und deswegen war diese “WG” eher ein Wehgeschrei als eine Wohngemeinschaft, aber das ist ein andere Geschichte. Mein Mitbewohner Georg, der genauso nicht Rhetorik studierte, wie ich nicht Philosophie studierte, schleppte eines Tages verdächtige Kisten in sein Zimmer, und ich verhielt mich eine Weile so, als interessiere mich das nicht. Nach der dritten Kiste tat er mir den Gefallen und erklärte: “Das ist mein neuer Computer.” Jetzt war ich neugierig. Nachdem Georg seine Beute in seine Höhle geschleppt hatte, fing er sofort an, alles auszupacken. Er zog nicht einmal seine Jacke aus, denn er war ein Mensch, der nicht warten konnte. Erstaunlich, wie viel Styropor man in solchen Kisten unterbringen konnte, wenn man doch außerdem auch noch elektronische Geräte darin zu verstecken hatte. Das Zimmer war im Handumdrehen voller Verpackungsmaterial, und ich wusste damals noch nicht, dass all das Styropor die materialisierten Träume des Benutzers und Besitzers sind, der sich mit dem Erwerb seines Neugeräts obenauf und cutting edge und supergut fühlt, bis es an die tatsächliche Inbetriebnahme des Geräts geht, und die ausgepackten Träume
Weitere Kostenlose Bücher