Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)
sich die Männer zu eingefleischten Kriegern entwickelten, hing deshalb auch schlicht von ihren Einsatzorten, Einheiten und Verwendungen ab, dies wiederum von ihrem Lebensalter und biografischen Zufällen. Das Arrangement mit der Gewalt gehörte zu ihrer Eigendynamik. Doch zur Rationalisierung des Erlebten rekurrierten die Soldaten nicht etwa auf irgendwelche universellen Logiken, die in allen Armeen der Welt dieselben gewesen wären. Vielmehr griffen sie auf gesellschaftlich vorgeprägte Deutungsmuster aus Wehrmacht und NS-Diktatur zurück – und dies verlieh ihrem kriegerischen Sozialisationsprozess seine historisch-kulturelle Aufladung.
Individuell und historisch-kulturell bedingt war auch die persönliche Wahrnehmung der Soldaten. Diese kulturhistorische Prämisse ist auch aus der Geschichte der Wehrmacht nicht wegzudenken: Menschliches Handeln wird nicht unmittelbar von den vermeintlich objektiven Gegebenheiten bestimmt – maßgeblich sind die subjektiven Deutungen dieser Gegebenheiten, von denen die Akteure ausgehen. Menschen richten sich stets danach, was sie selbst für die Realität halten, wie auch immer sich die Realität in Wirklichkeit darstellt. Die Analyse der Abhörprotokolle und Meinungsumfragen aus Fort Hunt hat dies bestätigt: Die Perzeption der Kriegswirklichkeit hing stark von den individuellen Standpunkten der Soldaten ab. Je weiter die Männer mit der Wehrmacht und dem NS-Regime verwachsen waren, desto parteilicher war ihre Weltsicht. Und umso beharrlicher verweigerten sie sich den Zeichen der Zeit. Das Maß der Befangenheit war eine Frage der Einstellungsstärke. Je weniger festgelegt die Soldaten in ihrem Denken waren, desto eher waren sie dazu fähig, die Kriegslage realistisch einzuschätzen – und umgekehrt. Wer zum harten Kern der Krieger gehörte, glaubte zum Teil noch um den Jahreswechsel 1944/45 an einen deutschen Sieg. Handlungsrelevant konnten solche Sichtweisen vor allem dann werden, wenn es um die Ausnutzung von Handlungsspielräumen ging. Insbesondere galt dies für jene Meinungsführer und Vorgesetzten, die in der Wehrmacht den Ton angaben.
Denn die Soldaten waren nicht alle nur Getriebene des Geschehens und nicht bloß passive Objekte des militärischen Apparats. Es würde den Verhältnissen in der Wehrmacht wohl kaum gerecht, die Militärorganisation und ihre Angehörigen analytisch in einem vollkommen einseitigen Machtgefälle zueinander in Beziehung zu setzen. Die Dialektik zwischen Strukturen und Akteuren gestaltete sich in der Wehrmacht wesentlich differenzierter und dynamischer. Gewiss war man als einfacher Landser vielem im Militär weitgehend ohnmächtig ausgeliefert: der Institution und ihren Regeln, den Ereignissen, den Vorgesetzten, der Gruppe. Doch schon hier begann die Ambivalenz: Die Gruppe war letztlich die Summe ihrer Mitglieder, und jeder Einzelne übte allein durch seine bloße Gegenwart die soziale Kontrolle in der Wehrmacht selbst mit aus. Denn so wie jeder ständig seine Nebenleute beäugte, mussten alle immer davon ausgehen, unter Beobachtung der anderen zu stehen. Die umgebenden Strukturen, von denen die Soldaten beherrscht wurden – diese konstituierten die Soldaten zum großen Teil selbst.
Die soziale Ordnung in der Wehrmacht war nicht statisch. Je länger die Soldaten überlebten und sich im Kampf bewährten, je höher sie dekoriert und befördert wurden, desto größere Autorität genossen sie und umso mehr partizipierten sie an der Befehlsgewalt. Je weiter sie also in der informellen und formellen Hierarchie ihrer Gruppe aufstiegen, desto mehr Gewicht fiel ihnen in diesen Strukturen zu. Dies begann auf der untersten Ebene bei jenen erfahrenen Mannschaftssoldaten, die in ihren Gruppen zu Autoritäten wurden oder auch offiziell als Gruppenführer fungierten. Es setzte sich in steigendem Maße fort mit den Unteroffizieren und Feldwebeln, die oft das Rückgrat der Einheiten bildeten. Und an der Spitze der Einheiten wurde dieses Prinzip von den unteren und mittleren Truppenführern personifiziert. Diese Männer waren oft über Jahre hinweg immer weiter mit der Wehrmacht und dem Krieg verschmolzen. Für das NS-System zu kämpfen war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Dass sie in ihren Einheiten zu informellen Führungsfiguren oder auch formellen Vorgesetzten avancierten, war die Konsequenz ihrer langen Dienstzeiten, ihrer Erfahrung, Expertise und der Anerkennung, die ihnen deswegen zuteil wurde. Für das Funktionieren der Wehrmacht besaßen
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