Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)
ausnutzten, die sich ihnen selbst in Gefechtssituationen oft boten. In der Forschungsdiskussion über die Frage, ob die Intentionen der Akteure oder die Imperative der Situation für das Verhalten der Soldaten entscheidender waren, sprechen die Befunde dieses Buches somit für eine vermittelnde Sicht. Der Konformitätsdruck in der Wehrmacht und die Dynamik des Krieges erklären vieles, aber nicht alles. Gewiss war das Individuum oft ohnmächtig gegenüber dem gewaltigen Geschehen. Doch abhängig vom Kontext und ihrer hierarchischen Position blieb den Soldaten trotzdem ein Rest an eigener Entscheidungsgewalt und persönlicher Verantwortung.
Wie die Soldaten ihre Rolle interpretierten, hing wiederum von ihren kulturellen Prägungen ab. Maßgeblich war der Prozess ihrer Sozialisation, sowohl in ihrem zivilen Vorleben als auch in ihrer militärischen Laufbahn. Die Akten aus Fort Hunt haben erstmals ermöglicht, dies zu untersuchen: Sie zeigen, wie sich biografische Dispositionen auf die Befindlichkeiten der Wehrmachtsangehörigen auswirkten. Dabei hat sich bestätigt: Weder soziale Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand, regionale Herkunft, konfessionelle Prägung oder politische Orientierung allein determinierten, wie die Soldaten dachten und fühlten. Erst alle diese Parameter zusammen ergaben die Verortung in einem Sozialmilieu, das den Männern seinen eigenen Stempel aufdrückte. Bei der Mehrheit machte diese milieuspezifische Prägung jedoch weniger einen radikalen, sondern eher einen feinen Unterschied. Sie entschied seltener über fundamentale Ablehnung oder fanatische Hingabe, sondern häufiger über graduelle Affinität oder tendenzielle Distanz zum NS-Regime und seinem Militär. Sie bestimmte weniger, ob man grundsätzlich dafür oder dagegen war, sondern vielmehr, an welcher Stelle im Spektrum des Konformismus man sich einordnete und wie man seine Rolle in der Wehrmacht annahm. Eine bestimmte biografische Variable war jedoch besonders prägend: das Lebensalter der Soldaten. In der Historiografie wurde dies schon oft vermutet, doch erst die Akten aus Fort Hunt haben jetzt einen fundierten empirischen Beleg dafür erbracht: Die jüngeren Alterskohorten der Wehrmacht, die im »Dritten Reich« aufgewachsen waren und das nationalsozialistische Erziehungssystem durchlaufen hatten, erwiesen sich als besonders loyale Soldaten. Dies konnte anhand der US-Meinungsumfragen unter den gefangenen Wehrmachtsangehörigen auch zählbar nachgewiesen werden: Die Soldaten der HJ-Generation hielten Hitler und dem NS-Regime fester die Treue und glaubten länger an einen deutschen Sieg als ihre älteren Kameraden, die noch im Kaiserreich und der Weimarer Republik groß geworden waren. Diese Befunde belegen: Erziehung und Indoktrination im nationalsozialistischen Deutschland zeigten Wirkung. Zeitpunkt, Bedingungen und Umfeld der Sozialisation machten einen spürbaren Unterschied.
In der Wehrmacht verbanden sich die biografischen Dispositionen der Männer mit ihrer militärischen Prägung, nicht selten wurde Ersteres durch Letzteres weitgehend überformt. Doch auch das Soldatwerden war trotz kollektiver Einbindung ein durchaus individueller Prozess. Denn den soldatischen Habitus streifte man höchstens ein Stück weit mit der Uniform über – das Soldatische eignete man sich vollends erst durch die Praxis an. Gewiss brachten nicht wenige die Begeisterung für das Militär schon aus ihrem Elternhaus oder der HJ mit: ein weiteres Moment, in dem kulturelle Vorprägungen und der Militarisierungsgrad der Zivilgesellschaft zum Tragen kamen. Die meisten Deutschen standen dem Militär zumindest aufgeschlossen gegenüber und ließen sich somit umso leichter zu Kriegern formen. Die entscheidende Sozialisationsinstanz bildeten indes das Militär und der Krieg selbst. Je länger die Männer der Wehrmacht angehörten und je mehr Bestätigung sie in ihrer Rolle als Soldaten fanden, desto weitgehender verwuchsen sie mit ihr. Dieser Vorgang vollzog sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Denn ohne Sinngebung ist menschliches Handeln kaum denkbar – erst recht nicht, wenn es um extreme Gewalt geht. Je mehr Gewalt man ausübte, desto mehr musste man dies mit sich selbst vereinbaren. Je länger die Männer also an der Front im Einsatz waren, kämpften und töteten, desto unausweichlicher waren sie auf die kriegerischen Sinnangebote des Militärs angewiesen. Und umso konsequenter machten sie sich folglich auch das Soldatenethos zu eigen. Inwieweit
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