Käptn Snieders groß in Fahrt
Ritzenfleth braucht einen neuen Lehrer
In der einklassigen Schule der kleinen Gemeinde Ritzenfleth an der Unterweser war der Notstand ausgebrochen: Herr Heinecke, der Lehrer, hatte die asiatische Grippe und mußte sofort ins Krankenhaus nach Berne.
Bürgermeister Reiners bemühte sich drei Stunden lang, einen Vertreter zu bekommen. Er saß in seinem Büro hinter dem Telefon und rief in allen Schulen der näheren Umgebung an. Aber niemand half ihm, denn überall waren Lehrer an der bösartigen Grippe erkrankt und konnten nicht unterrichten. Sie hatten sich auf einer Tagung in Bad Zwischenahn gegenseitig angesteckt.
Als er das wußte, wandte Herr Reiners sich an die Schulbehörde in Oldenburg. Doch auch von dort konnte man ihm keinen Vertretungslehrer schicken.
„Ich bin verzweifelt“, sagte der Schulrat, „über hundert Lehrer haben sich krank gemeldet. Es ist ein Notstand. Sie müssen selbst Rat schaffen.“
Der Bürgermeister steckte sich eine Zigarre an und überlegte. Sehr lange! Endlich stand er auf und ging zu Fräulein Drexage hinüber, einer älteren Dame, die als Kind eine Realschule erfolgreich besucht hatte und immer so tat, als wüßte sie alles besser als Herr Heinecke. Die müßte doch für ein paar Wochen unterrichten können.
Aber Fräulein Drexage bedauerte, wie sie sagte, unendlich und erzählte dem Bürgermeister mit weinerlicher Stimme, daß sie sofort nach Bremen reisen müsse, um dort ihren alten Vater zu pflegen.
Jetzt war Herr Reiners genauso weit wie vor drei Stunden. Er stiefelte zur kleinen Schule zurück und beobachtete eine Weile sinnend die Kinder, die immer fröhlicher wurden, weil der Vormittag fast herum und noch kein Lehrer aufgetaucht war. „Bekommen wir Extraferien?“ fragte ihn Ludwig, sein eigener Sohn, und seine Augen leuchteten hoffnungsvoll.
„Das könnte euch so passen“, brummte Reiners, „aber daraus wird nichts. Ich werde schon einen Lehrer für euch auftreiben.“
Natürlich konnte er die Kinder gut verstehen, Ferien waren immer noch schöner als der beste Unterricht, doch als Bürgermeister der Gemeinde mußte er dafür sorgen, daß sie etwas lernten. Nachdenklich schloß er die Klasse ab und legte den Schlüssel auf die Feuerspritze, die an der Wand hing.
Die Kinder schickte er für heute nach Hause.
Jeder Kapitän kann lesen
Am Abend, als die Arbeit in Feld und Stall getan war, machte der Bürgermeister sich auf, den Kapitän Reimund Snieders zu besuchen, der älter war als alle im Dorf und gleich hinter dem Deich ein kleines strohgedecktes Häuschen bewohnte.
Der Alte saß oben auf dem Deich auf seiner Bank, rauchte aus einer gebogenen Meerschaumpfeife und blickte sinnend einem Schlepper nach, der langsam die Weser hinauf tuckerte.
„Ah, der Herr Bürgermeister persönlich“, sagte er, als er den großen Mann auf der steinigen Treppe die Deichböschung heraufkommen sah. „Welche Ehre für mich! Setz dich, Walter!“ Herr Reiners schnaufte und ließ sich schwer neben dem Kapitän auf die Bank fallen.
„Was machen die Geschäfte? Hast du Sorgen, oder was treibt dich zu mir?“
„Ja, ich habe Sorgen“, sagte Reiners bedächtig, „Sorgen um unsere Kinder.“
„Ach, du meinst, weil Heinecke krank ist?“
Der Bürgermeister nickte.
Käpten Snieders nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte listig: „Mein Lieber, da weiß ich Rat!“
Reiners zog die Brauen hoch. „So?“
„Jawohl“, fuhr der Kapitän fort. „Du bittest die alte Drexage, für eine Zeitlang Unterricht zu halten. Dann kann sie ihre Weisheit mal an der richtigen Stelle loswerden und fällt nicht armen Seeleuten damit auf die Nerven.“
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf.
„Den Gedanken habe ich schon selber gehabt“, sagte er, „und war bereits bei ihr. Sie hätte wohl unterrichtet, aber sie muß morgen für längere Zeit nach Bremen fahren, um ihren kranken Vater zu pflegen.“
„Soso“, machte Käpten Snieders teilnahmsvoll, „das ist natürlich eine dumme Sache. Na ja, aber die Kinder werden das schon überstehen. Du kannst sie ja bei der Feldarbeit einsetzen, das bildet auch. Mach dir man keine Sorgen, Walter, wenn Heinecke wieder da ist, lernen alle ein wenig schneller. Die Kinder von Ritzenfleth sind ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen.“
„Mein lieber Käpten Snieders“, sagte Walter Reiners sehr gedehnt, während er sich ganz langsam eine kurze Stummelpfeife mit schwarzem Tabak vollstopfte, „die Kinder von Ritzenfleth sind
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