Kapital: Roman (German Edition)
anderen Leuten beobachtet.«
»Ich danke dir für deinen Rat«, sagte Quentina. Makela merkte, dass es besser war, nicht mehr weiter in sie zu dringen.
Es gab eine kleine Bibliothek im Lager, deren Bestand hauptsächlich aus Bücherspenden der Wohltätigkeitsvereine stammte. Sie wurde von einem der Aufseher geleitet, zusammen mit einer ägyptischen Intellektuellen, deren Mann im Gefängnis gefoltert worden war. Der Aufseher und die Lagerinsassin verstanden sich gut, aber das war auch die einzige Freundschaft zwischen Wächtern und Insassen, die es im Lager gab. Quentina lieh sich ein paar Bücher aus und versuchte, sie zu lesen, musste aber feststellen, dass auch das zu den Aktivitäten gehörte, deren Sinn sie einfach nicht erkennen konnte. Die Sachbücher waren zu langweilig oder zu deprimierend – eine Geschichte des Weltwährungsfonds undein Buch über eine junge Frau, die von ihrem Stiefvater misshandelt wurde –, und die Romane hatten einen ganz großen Fehler: Es war alles erfunden. Quentina konnte in ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung nicht nachvollziehen, welchen Zweck so etwas haben sollte. Makela behauptete, Bücher würden ihr zu einer Art Flucht verhelfen, aber das ergab keinen Sinn. Ein Buch konnte es unmöglich schaffen, einen aus dem Lager herauszuholen, es konnte nicht wie ein Hubschrauber im Hof landen und einen hier rausfliegen, oder sich wie von Zauberhand in einen britischen Pass verwandeln, der einem das Aufenthaltsrecht verlieh. Flucht war im Gegenteil genau das, wozu ein Buch eben gerade nicht verhelfen konnte. Jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne. Und der wörtliche Sinn von Flucht war das Einzige, was Quentina interessierte.
Was ihr aber tatsächlich irgendwie half, waren die Schichten, die sie in der Kinderkrippe übernahm. Dabei hatte sie nicht einmal besonders viel für Kinder übrig und auch keine besondere Begabung im Umgang mit ihnen. Aber es war immerhin – in einer sehr simplen und unkomplizierten Weise – eine Art von Beschäftigung. Jeden zweiten Tag half sie dort morgens drei Stunden lang aus. Mehr Gelegenheiten gab es nicht, denn die Leute hier sehnten sich so verzweifelt nach irgendeiner Art von Tätigkeit, dass es einen heftigen Kampf um die Arbeitsplätze in der Krippe gab. Es gab eine Warteliste, und Quentina bekam ihre Chance erst, als eine der Insassinnen zurück nach Jordanien geschickt wurde. Sie half dabei, kleine Spielbereiche abzugrenzen, sammelte Legosteine ein, schlichtete bei Auseinandersetzungen in dem kleinen Sandkasten und dem Puppenhaus oder setzte sich in eine Ecke und las den Kindern, die Lust hatten zuzuhören, Geschichten vor. Diese neun Stunden in der Woche, von zehn bis eins am Montag, Mittwoch und Freitag, gingen schneller vorbei als jede andere Stunde hier. Dadurch wirkte die Geschwindigkeit, mit der die übrige Zeit verstrich, jedoch umso langsamer und zähflüssiger. Sie war wie Klebstoff.
Das alles hätte leicht dazu führen können, dass sie daran zerbrach. Und es wäre vielleicht auch so weit gekommen, wenn es nicht diesen einen, entscheidenden Umstand gegeben hätte. Quentina hatte eine Geheimwaffe: Sie wusste, dass es nicht für immer so weitergehen konnte. Der Despot konnte nicht ewig leben. Quentina glaubte an die Gerüchte, dass er Syphilis hatte. Das wäre eine Erklärung dafür, warum dieser Mann, der zunächst für die Stammesbevölkerung und deren Rechte gekämpft hatte, nun zu der Seite des Bösen übergelaufen war. Und selbst wenn er nicht jetzt sofort starb – er war alt und wurde immer älter, sein Land war verzweifelt und wurde immer verzweifelter, und der Tag würde kommen, da er starb oder abgesetzt wurde, vielleicht ja schon bald. Wenn der Tyrann weg war, würde sich alles verändern. Quentina hatte sich geschworen, dass sie sich noch am selben Tag, an dem sie von seinem Tod erfuhr, freiwillig zur Abschiebung melden würde. Sie würde nach Hause fahren. Und dieser Gedanke bewahrte sie davor, den Verstand zu verlieren; er half ihr, in dieser Unzeit und an diesem Unort weiterzuleben, dieser Ort, der mit voller Absicht so angelegt war, dass man ihn unmöglich ertragen konnte. Schwieriger als das kann es nicht mehr werden. Es wird nicht ewig dauern.
106
»Sie haben das Recht zu schweigen«, sagte Kriminalinspektor Mill. »Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Es kann Ihrer Verteidigung schaden, wenn Sie einen Umstand verschweigen, auf den Sie sich später in der Verhandlung berufen
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