Kapital: Roman (German Edition)
zu wissen, was sie jetzt schon wieder dachte.
»Danke«, sagte Petunia. Während sie die Tür hinter ihm schloss, sah sie, dass auf der Fußmatte eine Postkarte lag. Sie bückte sich – ganz vorsichtig – und hob sie auf. Vorne auf der Karte war ein Foto ihres Hauses, Pepys Road 42. Sie drehte die Karte um. Es gab keine Unterschrift, nur eine gedruckte Nachricht. Da stand: » W IR W OLLEN W AS I HR H ABT .« Darüber musste Petunia lächeln. Warum in aller Welt sollte irgendjemand das haben wollen, was sie hatte?
2
Der Besitzer des Hauses gegenüber von Petunia Howe, Pepys Road 51, befand sich an seinem Arbeitsplatz in der City. Roger Yount saß am Schreibtisch in seiner Bank, Pinker Lloyd, und rechnete. Er versuchte herauszufinden, ob sein Bonus dieses Jahr die Summe von einer Million Pfund erreichen würde.
Roger war vierzig Jahre alt. Es war ihm in seinem Leben mehr oder minder alles zugeflogen. Er war etwa eins neunzig groß – gerade klein genug, um nicht das Bedürfnis zu haben, seine Größe durch eine gebückte Haltung zu kaschieren. Es gelang ihm sogar, durch seinen hohen Wuchs eine gewisse Leichtigkeit auszustrahlen, so als hätte die Schwerkraft beim Wachsen auf ihn weniger eingewirkt als auf andere, gewöhnlichere Leute. Die sich daraus ergebende Selbstzufriedenheit schien so wohlverdient zu sein, und er hatte offensichtlich ein so geringes Bedürfnis, den Leuten sein Glück unter die Nase zu reiben, dass sogar seine Arroganz charmant wirkte. Hinzu kam, dass Roger durchaus attraktiv war, wenn auch auf eine gewisse unpersönliche Art und Weise, und dass er über gute Manieren verfügte. Er war auf eine gute Schule (Harrow) und eine gute Universität (Durham) gegangen und hatte einen guten Job (in der Londoner Finanzwelt). Sein Timing war perfekt gewesen (kurz nach dem großen Crash und kurz bevor der Finanzsektor von all den Mathematikgenies und Glücksrittern überschwemmt wurde). Er hätte perfekt in das alte System gepasst, als die Leute noch spät zur Arbeit kamen und früh wieder gingen und in der Zwischenzeit eine ausgedehnte Mittagspause genossen; als alles noch davon abhing, wer man war und wen man kannte und wie gut man sich anpassen konnte, und als die höchste Auszeichnung darin bestand, dazuzugehören und als ein guter Teamplayer zu gelten. Er passte aber auch hervorragend in dasneue System, in dem vermeintlich alles leistungsorientiert war und in dem die Ideologie hieß: Arbeite hart, zocke hart und mache keine Gefangenen. Man musste mindestens von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends im Büro sein, es war vollkommen egal, mit welchem Akzent man sprach oder wo man herkam, solange man unter Beweis stellte, dass man der Sache gewachsen war und Geld für seinen Arbeitgeber verdienen konnte. Roger hatte einen genialen Instinkt dafür, wann es gerade passte, die Menschen im neuen Finanzsystem an das alte zu erinnern, ohne das neue System dadurch in Frage zu stellen. Er schaffte es zu signalisieren, dass er problemlos mit dem alten System zurechtgekommen wäre, gleichzeitig aber das gegenwärtige System ganz wunderbar fand. Sogar seine Kleidung – exquisit gearbeitete Anzüge im Stil eines Mannes von Welt, angefertigt von einem Schneider, der sein Atelier nur wenige Meter von der Savile Row entfernt hatte – schien zu sagen, dass er verstand, worum es ging. (Bei der Auswahl hatte ihm seine Frau Arabella geholfen.) Er war ein beliebter Boss, der nie die Geduld verlor und wusste, wann man die Dinge einfach nur laufen lassen musste.
Das war ein nicht zu unterschätzendes Talent. Ein Talent, das in einem guten Jahr schon mal eine Million Pfund wert sein dürfte, sollte man meinen … Aber es war nicht so ganz einfach für Roger, die Höhe seines Bonusses auszurechnen. Das lag daran, dass es bei seinem Arbeitgeber, einer relativ kleinen Investmentbank, zahlreiche Gesichtspunkte gab, die man in Betracht ziehen musste: die Größe des Firmenprofits im Ganzen; den Anteil, den seine Abteilung daran gehabt hatte, die für Transaktionen im Devisenmarkt zuständig war; die Frage, wie die Leistung seiner Abteilung im Vergleich mit der Konkurrenz abschnitt; und eine Reihe anderer Faktoren, von denen die meisten nicht gerade transparent waren und viele von dem subjektiven Urteil abhingen, das man über seine Leistung als Manager fällte. Es hatte ganz den Anschein, als wollte man diesen Entscheidungsprozess mit Absicht verschleiern. Verantwortlich für die Entscheidung war der
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