Karambolage
Ingrid Grabner starrte auf Thomas Korbers reglos daliegenden Körper. Durch ihr Gehirn sauste und schwirrte es, dass sie glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Bei den anderen war alles so leicht gegangen.
Georg Fellner – für wie viele Panikattacken war er der Grund gewesen, für wie viele Male aufwachen in der Nacht und nicht wieder einschlafen können, immer das Bild der Mutter vor Augen, wie sie leblos von der Decke herabhing. Ihr ganzes Leben bisher hatte daraus bestanden, den Gedanken an ihn und dieses Bild zu verdrängen. Dann hatte sie das Foto in der Bezirkszeitung gesehen, durch einen Zufall erfahren, dass ihre Freundin Maria in einer Pension untergebracht war, die Fellners Frau gehörte, gelesen, dass er bei diesem Billardturnier mitspielte. Es war wie ein Fingerzeig des Schicksals: Sie hatte ihn gefunden, ohne ihn zu suchen.
Später, im Kaffeehaus, dieser bornierte, von sich eingenommene Kerl, der an der Theke lehnte und auf ihr »Ich bin deine Tochter Ingrid. Ich muss mit dir sprechen« nur gelangweilt antwortete: »So? Bist du das? Schön. Ich habe aber jetzt keine Zeit. Ich spiele um den Sieg in einem Billardturnier, wenn du weißt, was das bedeutet.«
Hass war in ihr hochgestiegen. Sie hatte sich das Finale angesehen und ein weiteres Beispiel seines miesen Charakters bekommen. Dann hatte sie beschlossen, draußen auf ihn zu warten. Sie hatte die dunkle Regenjacke mitgehen lassen, um sich vor den Unbilden des Wetters zu schützen. In dieser viel zu großen Jacke war sie im Torbogen eines Hauses gestanden, und die Zeit war nicht vergangen, und wieder waren die hässlichen Bilder von früher vor ihr aufgetaucht.
Endlich war er herangetorkelt gekommen, und sie hatte ihn erneut angesprochen: »Ich finde dich einfach nur gemein und niederträchtig. Einen Dreck hast du dich um uns gekümmert. Meiner Mutter hast du das Blaue vom Himmel versprochen, aber du bist nach Wien zurück, als ob nichts gewesen wäre, als ich da war. Weißt du, wie ein Mensch aussieht, nachdem er sich aufgehängt hat? Weißt du das, du Scheißkerl?« Wild waren die Worte aus ihr herausgesprudelt, ohne Ordnung, ohne Plan, alles nur Emotion.
»Du meinst, ich hätte mit deiner Mutter zusammenbleiben sollen?«, hatte Fellner darauf gesagt. »Wenn ich damals jede geheiratet hätte, mit der ich im Bett war, wäre sich das gar nicht ausgegangen. Die anderen haben sich eben darum gekümmert, dass sie später kein kleines Andenken an diese Nacht zu Hause haben. Aber wie auch immer, sieh es so: Hätte deine Mutter dich nicht bekommen, wäre sie vielleicht heute noch am Leben, aber du nicht. Also sei froh, dass es mich gibt und dass die Sache passiert ist.«
Mit einem weiteren »Scheißkerl« hatte sie die Hände aus ihren Hosentaschen gerissen und ihm den Stoß versetzt. Nachher das Quietschen der Bremsen, der dumpfe Aufprall. Und sie war gelaufen, ohne recht zu wissen, wohin.
Einfach, wie von selbst, war es gegangen. Ein Stoß im Streit, im Affekt, ohne wirkliche Absicht, hatte Maria gemeint, als sie es ihr später erzählte.
Dann war sie diesem Stotterer in die Arme gelaufen, der sie aus der Boutique kannte und der das Ganze gesehen hatte. »B… Bravo, g… ganz toll«, hatte er zuerst nur gemeint und sie versteckt, bis der erste Wirbel vorübergewesen war. Aber sie hätte gleich wissen müssen, dass ein Kerl wie er so etwas nicht nur aus Sympathie tat. Er war tags darauf in die Boutique gekommen und hatte für sein Schweigen Geld verlangt. Er würde schon darauf achten, dass es nicht zu viel würde und dass eine Studentin es sich leisten könne. Überhaupt wäre der Preis ganz günstig, wenn sie auch noch ein wenig zärtlich zu ihm sein würde. Gar nicht mehr eingekriegt hatte er sich vor lauter Vorfreude und Aufregung, gar keinen verständlichen Satz hatte er mehr herausgebracht.
Als sie dann vor ihm in der Wohnung gestanden war, war ihr ganz eklig vor seinen schmutzigen Händen, seinen fauligen Zähnen und dem Schweiß unter seinen Achseln gewesen. Sie hatte ihm schnell das Beruhigungsmittel in den Whiskey gegeben und ihn damit betäubt. Zunächst hatte sie – genau wie jetzt – nicht gewusst, was sie weiter mit dem Mann machen sollte. Da hatte sie den alten Gasherd bemerkt, ihn aufgedreht, Eduard Seidl auf den Boden gleiten lassen, die Türe zugemacht und war gegangen.
Einfach, ganz einfach war wieder alles gewesen. Sie hatte nichts weiter dazutun müssen, um Eduard Seidl umzubringen. Und sie hatte nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher