Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
nicht fremd. Fragen nach Weltalter und Kalender beschäftigten ihn im Alter immer nachhaltiger. Freilich bemerkte der Kaiser auch die Widersprüchlichkeit aller Zeitberechnungen[ 37 ]. Die Sorge aber vor dem Gericht blieb gegenwärtig.
Dieses Gericht wurde mit schreckenden Imaginationen vor Augen gestellt. Es geschah mit eindringlichen, aufrüttelnden Worten – bedrohlich, gewaltreich, Angst weckend und nach guten Taten rufend. «Wenn aber der Richter der Lebenden und der Toten vom Himmel her erwartet wird», so hieß es in Augustins Christentumslehre (I,15,14,31), «jagt er den Ungläubigen große Furcht ein, damit sie sich zur Gewissenhaftigkeit bekehren und ihn mehr durch gutes Handeln ersehnen, als bei schlechtem Handeln sich vor ihm fürchten»[ 38 ]. Kein Kalender vermochte solche Worte zu entkräften. Aus der Spätantike überkommene Apokalypse-Illustrationen – faßbar in karolingerzeitlichen Kopien wie der Trierer Apokalypse[ 39 ] – bannten die Schreckensszenen noch nicht ins Bild, auch wenn sie Satan, erst in Ketten gebunden, dann als Schlange entfesselt, mithin die apokalyptischen tausend Jahre der Kirchengeschichte, imaginierten. Es waren die Worte, die wirkten und die Schrecken des Gerichts durch Predigt und Paränese verbreiteten.
Die Angst vor den Strafen des Jenseits, vor den Schrecken der Hölle und dem Jüngsten Gericht verschonten den König nicht. Karl lernte, am Ende der Zeiten zu leben, vor dem Anheben einesneuen, des letzten Äons der Weltgeschichte. Auch als er sich später für ein jüngeres Weltalter entschied, das jenes Ende noch länger hinauszuschieben schien, blieb die Ungewißheit. Die Welt war erschaffen, sie sollte wieder vergehen, und zwar in absehbarer, in historischer Zeit. So entsprach es Gottes Willen. Heilige hatten es so gelehrt und geweissagt. Wiederholt wurde es für Karls Hof festgehalten. Wann die Zeit erfüllt sei, blieb Geheimnis. Die Vorzeichen des anrückenden Endes aber nahm der König und Kaiser nicht anders wahr als die Gelehrten seines Gefolges; überhaupt achtete er auf die Zeichen am Himmel und auf der Erde, um sich für anrückendes Unheil, ja, für den eigenen Tod zu wappnen. Sein Biograph Einhard deutete es an (c. 32). Erdbeben, Dürre, Hungersnot galten ihm selbst als untrügliche Zeichen von Gottes Zorn. Karls Dienst für Gott und Kirche darf als Frucht seiner Erziehung gelten. Noch als Kaiser machte er ihn zur Maxime seines Tuns[ 40 ].
3 Wessobrunner Gebet aus dem Kloster Wessobrunn, um 800 (München Bayer. Staatsbibliothek clm 22053III), vgl. unten S. 348 und S. 436
Vielleicht hatte er schon als Schüler von den «zwölf Übeln der Welt» (
duodecim abusiva saeculi
) gehört, die bald dem hl. Patrick, bald den Kirchenvätern Augustinus oder Isidor zugeschriebenwurden und die den «tugendlosen Herrn» und den «ungerechten König» geißelten. In Karls Zeit jedenfalls verbreiteten sie sich. Der «gerechte König» hatte nach dieser Lehre die Untertanen nicht nur zu leiten und zu bessern, sein Regiment bewirke Freude unter den Menschen, so hieß es, Fruchtbarkeit der Erde und überhaupt «die Hoffnung auf die künftige Glückseligkeit». Der König aber, «der keine Gerechtigkeit wirkt», werde beim (Jüngsten) Gericht «den Primat der Pein» (
in poenis primatum
) erlangen. «Denn alle die Sünder, die er jetzt unter sich hat, werden in der künftigen Qual als Schadensmaß auf ihm lasten»[ 41 ]. Karl war empfänglich für solche Lehren, für die Gebote der Religion und der Kirche. Er hatte sie in der Zeit seines Vaters als Stärkung der Königsgewalt erfahren; es sollte sich unter ihm selbst nicht ändern: Ein kriegerischer König mit Gottesfurcht und Frieden und Gericht im Sinn.
1
Grenzen der Wahrnehmung
euchttum Europas»[ 1 ] – so feierte ein Dichter den Kaiser Karl. Es klang nach kontinentaler Weite. Indes, was wußte der Sänger von Europa? Was von der Welt? Was der besungene Herrscher? Was dessen vom Kriegslärm widerhallender Hof? Der Hof seines Vaters, an dem er erzogen wurde? Das Wissen, das Karl dort hatte sammeln können, mußte ihn auf seine künftige Herrschaft in einer Umwelt vorbereiten, deren Potentaten eigene Pläne hegten. Wie verläßlich also war das höfische Wissen? Wie immer die Antwort: Der Aufstieg des Frankenreiches von einer randseitigen zu einer mediterranen Macht offenbart, wie erfolgreich der Franke es zu nutzen verstand.
Speiste es sich aus bloßer Buchgelehrsamkeit, wie sie etwa Isidors von Sevilla
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