Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe von Seltmann
Vom Netzwerk:
ich und sah ihm fest in die Augen.
    Sein Grinsen verzog sich.
    »Volksgenosse Röther!«, brüllte ich noch einmal. Er schlug die Hacken zusammen und stand stramm. »Sie schieben sofort den Wagen vom Acker und holen einen Arzt!«
    Röthers Kinnlade klappte hinunter. Er bewegte sich nicht. Dann, nach ein paar Schrecksekunden, in denen sein kümmerliches Hirn unaufhörlich arbeitete, legte er sein Gewehr auf den Boden und schob den Wagen auf den Weg zurück. »Danke, Volksgenosse Röther«, sagte ich militärisch knapp. Röther wischte sich mit einem Taschentuch den Matsch von den Händen und den Schweiß von der Stirn. »Mensch …«, stammelte er, »du …?« Ich schlitterte los. Im Rückspiegel sah ich, wie er sein Gewehr schulterte und eilig in Richtung Dorf stapfte. Ich war mir sicher, dass er schon in Fricks Palast einen Arzt anrufen würde.
    Der Novembernebel hatte sich weiter verdichtet. Dicke Schwaden zogen über die abgeernteten Felder. Hier und da bedeckten noch Reste des ersten Schnees die Äcker und Wiesen. Rechts des Feldwegs konnte ich die Umrisse eines Heuschobers erkennen, links stand ein verlassener Jauchewagen. Der Weg wurde holpriger, aber ich hatte erst vor kurzem neue Stoßdämpfer eingebaut und konnte zügig fahren.
    Das Italienische Eck, von dem keiner wusste, warum es so hieß, befand sich etwa drei Kilometer außerhalb des Dorfs am Rande des Hochwalds. Ich wusste, dass Opa Bernhard hier war. Nachdem wir Freunde geworden waren, hatte er mich oft auf seine Spaziergänge mitgenommen. Der Weg führte uns fast immer ins Italienische Eck, wo wir äsende Rehe beobachteten oder an dem kleinen Bach einen Staudamm bauten und die Wiese überschwemmten. Oft hatte ich mir in meinen kindlichen Abendgebeten einen Großvater gewünscht. Ich war neidisch auf die anderen Kinder, die einen Opa hatten, der ihnen Geschichten erzählte und Spielsachen schenkte. Ich kannte meine Großväter nur von zwei Fotos, die im Schlafzimmer meiner Eltern hingen. »Die sind im Krieg geblieben«, lautete die immer gleiche Antwort auf meine Frage, wo denn meine Opas seien. Meine Großmutter mütterlicherseits klappte dann ihr Handtäschchen auf und wischte sich mit einem nach Kölnischwasser duftenden Taschentuch ihre roten Augen. Die Mutter meines Vaters war nach dem Krieg in einem Flüchtlingstreck gestorben, wie ich erst viel später erfuhr. Mein Vater hatte nie mit mir oder meinem Bruder über seine Eltern gesprochen. Unsere Fragen wurden mit Floskeln abgetan und blieben unbeantwortet.
    Ich stellte Florian in einer Einbuchtung ab. Kein Laut war zu hören. Es war nahezu windstill. Ich stieg die kleine Anhöhe hinauf und erreichte eine Lichtung. Gottseidank, er lebt noch, sagte ich halblaut, als ich Opa Bernhard in dem Wiesengrund erblickte. Er saß auf der verwitterten Holzbank, auf der er immer saß, leicht nach vorne gebeugt, die Hände auf den Knauf seines Krückstocks gefaltet, den er zwischen seine Knie geklemmt hatte.
    Ich lief die letzten Meter und rief seinen Namen, aber er rührte sich nicht. Ich hockte mich neben ihn.
    »Opa Bernhard«, schnaufte ich, »du hast mir vielleicht Angst eingejagt.«
    Opa Bernhard antwortete nicht.
    »He«, sagte ich und knuffte ihn in die Seite, »was ist los?« Opa Bernhard lehnte sich zurück, schaute mich an und sagte mit leiser, aber kräftiger Stimme: »Ich bin daheim.« Ehe ich noch etwas entgegnen konnte, sank sein Kopf leicht zur Seite, sein Körper zuckte noch ein- oder zweimal, er seufzte, röchelte und seufzte. Dann war Stille. »Nein!«, schrie ich.
    Eine Ente auf dem Teich schreckte auf und flatterte davon, ein schwarzer Vogel im Wipfel einer kahlen Eiche krächzte. Ich packte Opa Bernhard an den Schultern und schüttelte ihn. Er blickte mich mit starren Augen an und lächelte. Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Bank verweilt hatte, Opa Bernhards Kopf an meine Schulter gelehnt, als es plötzlich unruhig wurde. Der feuchte Ostwind wehte das Läuten der Kirchenglocken herüber. Der Gottesdienst war zu Ende. Jetzt kündigen sie Opa Bernhards Fahrt in den Himmel an, dachte ich.
    Das Klappen von Autotüren und die Stimme vom Flurschütz Röther, der sich offensichtlich wichtig machte, rissen mich aus meinen Gedanken über Himmel und Hölle, Tod und Teufel.
    »Hier müssen wir lang, da, dort sitzen sie«, keuchte der Flurschütz.
    Doktor Wesenberger, Opa Bernhards Hausarzt, war schneller als Röther und kam als Erster zu der Bank.
    »Er ist tot«, stellte er fest, »nichts mehr

Weitere Kostenlose Bücher