Karlebachs Vermaechtnis
sich auf einer Liege in der Sonne aalte und sich ihre Schenkel und Brüste eincremte, doch dann verlor ich das Interesse an meinen Untertanen und wollte wieder hinabsteigen. Aber ich saß fest. So sehr ich mich bemühte, der Rückweg war mir versperrt. Angst stieg in mir hoch, Angst vor der Strafe meines Vaters, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor der Höhe. Was eben noch höchste Glücksgefühle erweckt hatte, war plötzlich nichtig und leer. Ich traute mich nicht, um Hilfe zu rufen, und begann zu weinen. Ich versprach dem Herrn Jesus, nie wieder etwas Böses zu tun, nie wieder ungehorsam zu sein, er möge mir doch - Bitte! Bitte! - nur hinunterhelfen oder meine Beine verlängern, damit ich den nächsten Ast erreiche. Aber das Wunder blieb aus. Meine Beine wuchsen nicht, und ich blieb auf meinem Thron gefangen. Nach einer unendlich langen Zeit spazierte Opa Bernhard die Straße entlang und bemerkte meine verzweifelte Lage. Er breitete seine Arme aus und sagte: »Spring! Du kannst mir vertrauen, Ulrich.« Er musste mir eine Weile gut zureden, ehe ich den Sprung wagte. Endlich ließ ich mich mit einem Stoßgebet auf den Lippen fallen, und Opa Bernhard fing mich auf. In diesem Augenblick kehrten meine Eltern zurück. Opa Bernhard zwinkerte mir zu, legte seinen Zeigefinger auf meinen Mund, nahm mich bei der Hand und führte mich zu meinen Eltern. Er sagte kein Wort von dem, was geschehen war, und bewahrte mich vor meiner gerechten Strafe. Seit diesem Tag teilten wir ein Geheimnis und waren Freunde.
Mein Kopfweh ignorierend fuhr ich in die Hose, streifte mir einen Pullover über, den ich aber sogleich wieder auszog, als ich einen Käsekuchenfleck bemerkte, und schlüpfte in ein sauberes Hemd und in meine Schuhe. Ich taumelte ins Bad, wo ich eine Aspirintablette schluckte, wischte mir den Mund ab und begab mich, auf die Wirkung des Aspirins vertrauend, zu meinem alten Renault, der wegen seiner feuerroten Farbe den Namen Florian trug. Er stand in der Garage meiner Eltern, denn in seiner Heckklappe klaffte ein faustgroßes, nur notdürftig mit Folie überklebtes Rostloch. Wenn es regnete - und das tat es in Merklinghausen oft - lief der Wagen voll Wasser. Zum Kauf einer neuen Klappe fehlte mir das Geld und so war ich froh, wenn ich meinen Florian irgendwo unterstellen konnte. »Bitte spring an«, bat ich meinen Wagen und er erhörte mich. Opa Bernhards Haus lag nur wenige hundert Meter entfernt. Ich klopfte mir auf die Schulter: nur sechs Minuten vom Wachwerden bis zum Losfahren, und das unter erschwerten Bedingungen. Ich war zufrieden mit mir. Ich rechnete damit, dass Opa Bernhard, den ich wegen seiner gebogenen Beine und seines steifen Ganges gelegentlich »General O-Bein« nannte, vor dem Gartentor schon auf mich wartete. Ich dachte noch einmal über den gestrigen Abend nach. Opa Bernhard war ein begnadeter Erzähler, und wenn er sich in Eifer geredet hatte, unterstrich er jedes Wort mit einer Geste oder spielte ganze Szenen aus seinem Leben.
So lange ich ihn kannte, hatte er Schwierigkeiten mit seinen dritten Zähnen. Jede Scheibe Brot teilte er in mundgerechte Bröckchen, die er mit der linken Hand in seinen Kaffeepott tunkte. Wurst und Käse, die er zuvor abnahm, schob er dann mit der rechten Hand nach. Wenn wir gemeinsam zu Abend aßen, zog sich die Zeremonie oft über Stunden hin, Opa Bernhard fiel immer wieder ein Ereignis ein, das er mir unbedingt schildern musste. Bevor er mit der Geschichte begann, fuhr er mit der Zunge in jeden Mundwinkel, damit ihn ja kein Krümel beim Erzählen störte, spülte mit einem kräftigen Schluck Kaffee oder Buttermilch nach und wischte sich zuletzt Finger und Mund mit einer Stoffserviette ab. Er faltete diese umständlich zusammen und seufzte in sich hinein. Dann fing er zu erzählen an. In letzter Zeit redete er oft von seinem Vater, der als Offizier in der Leibgarde Kaiser Wilhelms gedient hatte. Die meisten Geschichten aus jener Epoche kannte ich bereits, doch hörte ich auch beim fünften oder sechsten Mal aufmerksam zu, sei es aus Höflichkeit oder aus Interesse. »Hände an die Hosennaht! Brust raus! Kinn vor!«, ahmte er den militärischen Ton seines Vaters nach und schmunzelte, weil er selber in einer Armee gedient hatte. Als kleines Kind habe er immer vor seinem Vater stramm stehen müssen, erzählte er und rückte den Küchentisch ein wenig beiseite, um sich zu erheben.
»So«, sagte er und richtete sich kerzengerade auf, »Hände an die Hosennaht! Brust raus! Kinn
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