Karlebachs Vermaechtnis
vor!« Wenn er nicht geradegestanden sei, habe ihm sein Vater mit dem Rohrstock auf den Rücken geschlagen. Diese Zeiten seien ja Gottseidank vorbei, sagte Opa Bernhard dann und fügte stets hinzu: »Aber der Kaiser hat viel Gutes für das deutsche Volk getan.«
Mittlerweile hatte ich Opa Bernhards Haus erreicht. Ich ließ Florian mit laufendem Motor stehen, denn gewöhnlich war die Straße um diese Zeit kaum befahren, da sie gleich hinter dem Ort bei einem Sägewerk endet. Ich sprang aus dem Wagen und wollte die Beifahrertür öffnen, da bemerkte ich, dass Opa Bernhard nicht am Gartentor wartete. Der alte Preuße wird doch auf seine alten Tage nicht noch unpünktlich?
Ich eilte durch den kleinen Vorgarten und übersprang einige Blumenbeete, die Opa Bernhard mit Tannenzweigen abgedeckt hatte. Die Haustür des alten Fachwerkgebäudes war unverschlossen. Ich spähte in den Flur und rief Opa Bernhards Namen. Seit seine Frau gestorben war und sein einziger Sohn, der nach der Hochzeit mit einer Frau aus dem Nachbardorf noch einige Jahre das Obergeschoss bewohnt hatte, ausgezogen war, lebte er alleine. Ich rief noch einmal, aber alles blieb still. Ich schaute zur Garderobe und sah, dass sein Mantel und sein Hut nicht dort hingen. Auch sein Krückstock, den er seit einigen Jahren bei Spaziergängen benutzte, stand nicht an seinem Platz. »Opa Bernhard!?«, rief ich wieder, aber nichts rührte sich. Vielleicht war er ja schon losgegangen und hatte einen Zettel hinterlassen. Ich ärgerte mich über meine Verspätung und öffnete die Küchentür. Auf der Anrichte erblickte ich ein Blatt Papier. Ich las nur die ersten Zeilen. Ob er mir eigentlich schon einmal erzählt habe, wie sein Vater gestorben sei, hatte mich Opa Bernhard gestern Abend gefragt. »Nein«, hatte ich geantwortet, wenig erpicht darauf, diese Geschichte zu hören. Als Hypochonder versuche ich alle Situationen zu vermeiden, in denen ich mit Krankheiten oder gar mit dem Tod zu tun bekomme. Jedes Mal, wenn mir irgendjemand die Symptome eines bestimmten Krankheitsbildes schildert, leide ich wenig später selber daran. Sogar mein Kumpel Andi, der in den ersten Semestern seines Medizinstudiums von ähnlichen Beschwerden heimgesucht worden war, konnte mich nicht von meinem angstvollen Leiden kurieren. Als er es einmal eines Nachts in unserem Keller mit einer Schocktherapie versuchte und mir Bilder von sezierten Leichen zeigte, die er - da war er ganz stolz drauf - selber fotografiert hatte, erlitt unsere Freundschaft eine ernste Krise. Mir wurde damals furchtbar übel, und ich musste mich übergeben. Ich schaffte es nicht mehr bis zur Toilette und beugte mich über den nächsten Holzverschlag, nicht ahnend, dass dort frische Kartoffeln lagerten. Wir konnten uns dann nicht einigen, wer Schuld an dem Unglück war und die Sauerei wegputzen musste. Ich tat es nicht, weil es mir wirklich schlecht ging. Und er, so weit ich weiß, auch nicht, denn er wähnte sich im Recht. Irgendjemand muss sich doch dafür verantwortlich gefühlt haben, denn als wir uns einige Wochen später wieder versöhnten, waren die Kartoffeln von meinem Mageninhalt gereinigt.
Ich fragte Opa Bernhard, ob ich noch einen Kaffee kochen oder etwas Buttermilch holen sollte, und hoffte, ihn vom Thema abzubringen, doch er ließ sich nicht beirren.
»Danke, Ulrich«, sagte er und begann zu erzählen. »Mein Vater war im Krieg schwer verwundet worden, wie du weißt. Ein Kopfschuss. Die Ärzte konnten ihm zwar das Leben retten, aber er war nicht mehr der alte. Er starrte nur noch vor sich hin und schrie dann plötzlich los. Vor allem, wenn er getrunken hatte. Und das tat er oft. Meine Mutter und wir Kinder fürchteten uns vor ihm. Nur wenn meine kleine Schwester auf ihrer Flöte spielte, war er etwas freundlicher.« Opa Bernhard versank in seinen Erinnerungen. »Vater muss im Krieg schreckliche Dinge erlebt haben«, fuhr er fort und schüttelte sich, »aber darüber gesprochen hat er nie. Nachts phantasierte er oft, und wenn er aus seinen Alpträumen erwachte, fluchte er gotteslästerlich.« Opa Bernhard stockte wieder, nippte von dem längst kalt gewordenen Kaffee und wies auf ein Bild auf dem Küchenschrank. Es zeigte einen hageren Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren in einer dunklen Militäruniform. Seine hohe Stirn unterstrich den entschlossenen Blick, der geradeaus gerichtet war und keinen Widerspruch zu dulden schien.
»Als Vater starb, war er voller Hass«, sagte Opa Bernhard unvermittelt.
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