Karma-Attacke (German Edition)
Vivien in seinen Akten ein aus dem Schulheft herausgerissenes, zerknülltes Stück kariertes Papier gefunden, das auf ein DIN-A4-Blatt geklebt und unter Klarsichtfolie abgeheftet worden war. Die roten Kringel und Pfeile waren von ihm. In seiner verkrochenen, krakeligen Schrift hatte er ein paar Bemerkungen hinzugefügt. Diese Fetzen mussten tatsächlich aus ihrem Papierkorb stammen. Vivien hatte sich vorgestellt, wie er sie bügelte und zu entziffern versuchte. Sie verstand nicht, was an ihr so interessant sein sollte, aber manchmal genoss sie, dass es so war. Sie hatte so etwas wie Macht über ihn. Je mehr sie schrieb und erzählte, desto glücklicher machte sie ihn. Zog sie sich ins Schweigen zurück, konnte er seine Verzweiflung nur schwer verbergen.
Natürlich hatte sie ein Einzelzimmer in Trakt B, eine bunte Oase in diesem grauen Gebäude. Sie besaß einen Fernseher mit Kabelanschluss und einen Videorecorder. Sie durfte gucken, was sie wollte, allerdings hatte die Schwester die Fernbedienung, und manuell war der Kasten nicht zu bedienen. Jedes Mal wenn Vivien in ein anderes Programm umschalten wollte, musste sie die Schwester rufen, und die Schwester hatte genau zu protokollieren, welche Sendungen Vivien sich ansah. Eine Anweisung vom Chef persönlich.
Wenn Vivien die Schwester ärgern wollte - und Schwester Inge ärgerte sie besonders gern -, dann verlangte sie zehnmal am Abend nach einem Programmwechsel. Schwester Inge war eine blöde Ziege, und Vivien genoss es, ihr Arbeit zu machen. Sie konnte ruhig eine schiefe Schnute ziehen oder patzige Bemerkungen machen - Schwester Inge tat, was Vivien verlangte, und schrieb alles auf, denn es machte keinen Sinn, sich gegen Professor Ullrichs Anweisungen aufzulehnen. Zumindest nicht, wenn man seinen Job behalten wollte. Und Schwester Inge war als allein erziehende Mutter auf diese Stelle angewiesen.
Einmal, ein einziges Mal, hatte Schwester Inge eine spitze Bemerkung gewagt. «Wenn Sie mich fragen, die Göre braucht keine Therapie. Was die nötig hat, sind ein paar Ohrfeigen», hatte sie gesagt.
Professor Ullrich hatte sie eisig angestarrt und schließlich gezischt: «Sie fragt aber keiner!» Seither tat er, als sei die Sache erledigt, doch Schwester Inge wusste, er wartete nur darauf, dass sie einen Fehler machte. Er würde gnadenlos dafür sorgen, dass sie gehen musste, wenn sie ihm auch nur den kleinsten Anlass lieferte.
Sie hoffte, sich wieder bei ihm einschmeicheln zu können, und zwar über Vivien. Irgendwann würde das Mädchen versuchen, sich der Kontrolle des Professors zu entziehen. Auf diesen Moment wartete Schwester Inge. Wenn es ihr gelang, ihm eine Information über Vivien zu geben, die ihm anders nicht zugänglich war, dann könnte sie vielleicht sogar die Stationsleitung bekommen …
Es hing also alles von Vivien ab.
Schwester Inge hasste diese unmögliche Göre. Sie war genauso alt wie ihre Tochter Julia. Aber Vivien beherrschte sie. Wie viele Ohrfeigen, die eigentlich Vivien galten, hatte Julia in den letzten Jahren einstecken müssen?
Den Gedanken, sich über Professor Ullrich zu beschweren, hatte Schwester Inge längst aufgegeben. Sie hatte Frau Dr.Sabrina Schumann, die Verwaltungsdirektorin, nur einmal in seiner Gegenwart erlebt und sofort begriffen, dass diese Frau dem Professor auf eine irre Art verfallen war. Jedenfalls konnte sie von ihr keine Hilfe erwarten.
2
Auf Professor Peter Ullrichs Schreibtisch lagen grob geknetete Figuren aus Ton. Sie hatten die Form von Föten. Besucher gingen automatisch davon aus, dass es sich um Geschenke eines Patienten handelte. Missglückte Versuche einer gequälten Seele aus der Beschäftigungs- oder Spieltherapie.
Der Professor ließ die Leute in dem Glauben. Aber er hatte die Figuren selbst geformt. Jedes Mal, wenn er sie ansah, erschrak er, und doch fand er sie vertraut. Vorsichtig berührte er eine gekrümmte, aufgeplatzte Gestalt. Sie kam ihm bestürzend lebendig vor. Etwas Böses ging von diesen Figuren aus. Er selbst hatte sie geschaffen, doch es kam ihm so vor, als hassten sie ihn. Wenn sie sich aus ihrer Erstarrung lösen könnten, würden sie mich angreifen, dachte er und zog den Finger unwillkürlich zurück. Er bewahrte längst nicht alle Figuren im Büro auf. Die schlimmsten Fratzen lagen zu Hause in der Tiefkühltruhe, neben den kopflosen Hechten und aufgeschnittenen Forellen.
Gern sah er seinen Fingern beim Kneten zu. Sie waren dann wie selbstständige, von ihm unabhängige kleine
Weitere Kostenlose Bücher