Psychopathen
Vorwort
Mein alter Herr war ein Psychopath. Es klingt etwas seltsam, das jetzt, im Nachhinein, zu sagen. Aber er war einer. Definitiv. Er war charmant, unerschrocken und skrupellos (aber nie gewalttätig). Gewissensfragen ließen ihn völlig kalt. Er hat niemanden umgebracht. Aber ein paar Treffer hat er schon gelandet. Gut, dass Gene nicht alles sind, oder?
Mein Vater war unglaublich gut darin, genau das zu bekommen, was er wollte. Oft durch eine lässig hingeworfene Bemerkung. Oder durch eine einzige vielsagende Geste. Die Leute sagten immer, er sehe aus wie Del Boy, eine der Hauptfiguren in der sehr populären englischen Sitcom ›Only Fools and Horses‹, eine sehr selbstbewusste und unbekümmerte Persönlichkeit, die lügt, dass sich die Balken biegen. Es stimmt, mein Vater sah aus wie er und war auch so. Außerdem war er ebenfalls Markthändler, genau wie Del Boy. Die Sendung hätte ein Dutton-Familienvideo sein können.
Einmal half ich ihm dabei, auf dem Petticoat Lane Market im Londoner East End eine Ladung Taschenkalender zu verhökern. Ich war zehn und hätte an dem Tag eigentlich in der Schule sein müssen. Die Taschenkalender waren eine Art Sammlerstück. Sie enthielten nämlich nur 11 Monate.
»Das kannst du nicht machen!«, protestierte ich. »Da ist doch gar kein Januar drin.«
»Weiß ich«, sagte er. »Deshalb habe ich ja auch deinen Geburtstag vergessen.«
Dann legte er los: »Leute, das ist eine einmalige Gelegenheit, an Taschenkalender zu kommen, in denen nur 11 Monate drin sind. Ich mache ein Sonderangebot. Ihr kriegt zwei für den Preis von einem, und im nächsten Jahr dann einen mit einem Extramonat kostenlos dazu.«
Wir haben den ganzen Kram verkauft.
Ich habe immer gedacht, dass mein Vater die ideale Persönlichkeit für den modernen Lebensstil hatte. Ich habe nie gesehen, dass er in Panik geriet. Er hat nie seinen klaren Kopf verloren. Er ist nie in Wut geraten. Und für all das gab es wahrhaftig genügend Anlässe.
»Es heißt, die Ängstlichkeit der Leute stamme noch aus den Zeiten, als man sich gegen Raubtiere verteidigen musste, um zu überleben«, sagte er einmal zu mir. »Aber sag mir bloß, mein Junge, siehst du hier irgendwo einen Säbelzahntiger um die Ecken streichen?«
Natürlich habe ich keinen Säbelzahntiger gesehen. Es gab in der Gegend zwar ein paar Schlangen, aber jeder wusste, wo sie sich befanden.
Lange dachte ich, dieses Bonmot meines Vaters sei auch nichts anderes als seine übliche Handelsware. Nicht viel dahinter. So, wie der ganze andere Krempel, den er erstaunlicherweise immer an den Mann brachte. Aber heute, viele Jahre später, ist mir klar, dass eine tiefe biologische Wahrheit in dem lag, was der alte Fuchs von sich gab. De facto hat er damit knapp und präzise die Einstellung beschrieben, die moderne Evolutionspsychologen einnehmen. Wir Menschen, so scheint es, haben unsere Angstreaktion tatsächlich als Überlebensmechanismus entwickelt, um uns vor natürlichen Feinden zu schützen. Affen, deren Amygdala, das Gefühlssortierbüro des Gehirns, nicht richtig arbeitet, tun sehr dumme Dinge. Sie versuchen zum Beispiel, Kobras vom Boden aufzuheben.
Jahrmillionen später, in einer Welt, in der nicht um jede Ecke wilde Tiere kommen, kann dieses Angstsystem überempfindlich sein – wie ein nervöser Autofahrer, der den Fuß immer über der Bremse hält. Es kann auf Gefahren reagieren, die gar nicht wirklich existieren, und dafür sorgen, dass wir unlogische und unvernünftige Entscheidungen treffen.
»Im Pleistozän gab es keine Aktien«, sagt George Loewenstein, Professor für Wirtschaft und Psychologie an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. »Doch der Mensch ist pathologischrisikoscheu. Viele Mechanismen, die unsere Emotionen steuern, passen eigentlich nicht in die moderne Welt.«
Ich ziehe die Version meines Vaters vor.
Die Feststellung, dass moderne Menschen pathologisch risikoscheu sind, bedeutet selbstredend nicht, dass das immer schon ein Problem war. Man kann sogar so argumentieren, dass zum Beispiel diejenigen von uns, die unter einer richtigen Angststörung leiden, einfach zu viel von etwas haben, was eigentlich eine gute Sache ist. In den Frühzeiten der Menschheit, so meinen Evolutionsbiologen, konnte es in einer feindlichen Umwelt ausschlaggebend sein, wenn man hyperwachsam war. Aus diesem Blickwinkel betrachtet konnte Ängstlichkeit zweifellos ein wichtiger Anpassungsvorteil sein. Je empfindsamer man im Hinblick auf das Geraschel
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