Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Vorwort
Nicht weinen, nicht zürnen. Sondern begreifen.
(Baruch de Spinoza)
Jeder von uns hat eine Krankenhausgeschichte zu erzählen, selbst erlebt oder bei den Liebsten, den Kollegen, den Nachbarn beobachtet. Der Blinddarm, der gebrochene Fuß, die neue Hüfte, der Infarkt, der Tumor. Vielleicht konnten auch Sie nicht fassen, wie man innerhalb eines Augenblicks von einer Person zum »Fall« wird. Vielleicht sind auch Sie verzweifelt gewesen oder irritiert oder stocksauer. Vielleicht wundern Sie sich ebenfalls, wie lange das Verarbeiten währt.
Gleich werden Sie eine solche Geschichte lesen: Eine Frau hat diffuse Beschwerden im Bauch, sie gerät in eine Maschinerie namens Krankenhaus, sie wird mehrfach operiert, zum Teil mit schlimmen Folgen, sie ist körperlich und seelisch am Ende, sie überlebt. Und seitdem gilt für sie die Zeitrechnung VOR dem Sommer 2011 und NACH dem Sommer 2011, ihre Familie und Freunde sehen das so, und im Beruf kennen ihre Kollegen diese Zäsur.
Zeit ist seit diesem Sommer gleichzusetzen mit Sterblichkeit, was ich inzwischen in Ordnung finde. Über den Rest des Lebens, den Countdown zum Tod nachzudenken – war zuvor nie meins. Das nennt man wohl den Erfahrungsschatz vergrößern.
Man stelle sich diesen Sommer als einen privaten ground zero vor. Nicht, weil ich die physischen Ereignisse um diesen meinen Bauch herum überschätze, nein. Sondern weil für etwa fünf Monate eine Gewissheit außer Kraft gesetzt wurde: als aufgeklärter, abgesicherter Mensch in Deutschland das eigene Leben gestalten und verantworten zu können. Obwohl ich mich gut ausdrücken kann und es mir nicht schwerfällt, zu fragen oder zu fordern. Obwohl ich Menschen an meiner Seite hatte, die klaglos für mich da waren, mich praktisch und emotional stützten. Obwohl ich in meinem vertrauten Heimatland krank war und eine teure Versicherung hatte. Obwohl ich nicht sonderlich ängstlich oder misstrauisch bin.
Wie mag es anderen gehen, die nicht solche Voraussetzungen mitbringen? Den Fremden, die ein Unfall in eine Klinik fern der Heimat katapultiert? Den Alten oder Armen, die ratlos und sprachlos vor dem Herrn Doktor stehen?
Viele kennen die Entmündigung, die man im Krankenhaus erleben kann. Ich bevorzuge das harte Wort Enteignung. Genommen wurde mir – zum Vorteil des Wirtschaftsakteurs Klinik – die Verfügung über meinen Körper. Der Zugriff war nicht verhältnismäßig und diente auch keinem Gemeinwohl. Genommen wurde mir zudem das Urvertrauen in andere. Ich »besaß« mein eigenes Leben nicht mehr. Ein Jahr danach, und ich sehe die zweite Agenda: die »Werte« des Marktes, die völlige Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Beziehungen als Ware. Das war vorher bloß Papierwissen, Talkshow-Geräusch. Darum der aus der Ökonomie entliehene Titel dieses Buches – »Enteignet«.
Dieses Buch wird nicht fragen: Wie konnte mir das passieren? Sondern: Warum passiert so etwas? Warum passiert es weiterhin? Welche Faktoren greifen ineinander und machen aus Menschen … Fälle?
Seitdem ich meine Erlebnisse mit anderen besprochen und dann, nach langem Zögern, zunächst als Zeitungsreportage veröffentlicht habe, weiß ich, dass sie nicht außergewöhnlich waren, und diese Durchschnittlichkeit macht mir zu schaffen, als Expatientin und als Journalistin. Alle Gespräche und Korrespondenzen hatten denselben Kammerton: Im Krankenhaussystem läuft etwas gewaltig schief. Die Sache fährt in einigen Jahren vor die Wand, wenn sich die Gesellschaft der Komplexität der Probleme beugt. Obwohl die Deutschen Milliarden für das Gesundheitssystem ausgeben, vergeht kaum ein Monat, in dem nicht von einem Skandal – oder von unnötig Gestorbenen die Rede ist. Insbesondere die Krankenhäuser geraten ins Visier. Wie unter einem Vergrößerungsglas bilden sich hier die Vorzüge und Defizite unseres Gesundheitssystems ab. Hier ist der Ort, wo Menschsein elementar stattfindet. Gebären, gesunden, heilen, dahinsiechen, leiden, sterben. Ein Krisenort. Ein Hoffnungsort.
In der Sendung »Monitor«, die ich fast elf Jahre verantwortete und moderierte, war fehlerhafte Gesundheitspolitik ein Muss-Thema. Und am Ende jedes Missstands, den wir aufdeckten und kritisierten, stand die bittere Erkenntnis: Die Politik müsste in unzähligen Bereichen reingrätschen, lässt sich aber von Lobby- und Verbandsinteressen lähmen oder sogar leiten. Wo mit einer patientenfreundlichen Revolution beginnen? Beim Krankenkassenverband? Bei der
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