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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sich aufgegeben haben, mußte jemand diese beiden, extra für mich, herausgelangt haben. Strafverschärfend, meinte ich zuerst, und ertappte mich sogar bei dem unsinnigen Gedanken: Wenn das der Vater wüßte –. Bis die Stimme der Vernunft in mir ironisch fragte: Was dann? Käm ich dann hier raus? Brächten sie andre Weiber? Beßres Essen?
    Nein.
    Unaufhörlich, von der ersten Stunde an, arbeitete ich an dem Weidengeflecht, mit dem die runde Höhlung, in deren Mitte ich knapp stehen konnte, ausgekleidet war. Wie jetzt fand ich eine dünne lockere Gerte, zog sie – ach! Stunden, vielleicht Tage hat es mich gekostet – aus dem Flechtwerk, und ging daran – wie ich es jetzt seit mehr als einer Stunde tue (doch der Weidenkorb, in dem ich sitze, ist neuer, sein Geflecht nicht so vermodert und verfilzt) –, gehe daran, sie ganz und gar, soweit sie eben reicht, herauszulösen. Verfiel, verfalle in einen Eifer, als hinge mein Leben davon ab. Zuerst, als ich zu meinem Glück noch wie betäubt und fühllos war (dies konnte man mir doch nicht antun; mir doch nicht; doch nicht der Vater), da hielt ich mich noch für lebendig eingegraben; denn ich wußte ja nicht, wo ich war, und den Einschlupf, durch den man mich hereingelassen, hatte man, wie ich hörte, hinter mir sorgfältig zugemauert. Dieser Gestank, der mich anfiel. Das gab es nicht. Wo war ich. Wie lange braucht ein Mensch, bis er verhungert. Ich kroch im Staub umher – was, Staub, ekelhafter Moder. War mein Behältnis rund? Rund und mit Weidengeflecht ausgekleidet und, da es keinen Lichtstrahldurchließ, auch nicht, als Tag und Nacht und wieder Tag doch wohl vorüber waren, wahrscheinlich außen dick mit Lehm beworfen. So dacht ichs mir. Und hatte recht. Schließlich fand ich Knochen und wußte, wo ich war. Jemand winselte: Jetzt nicht den Verstand verlieren, jetzt nicht –. Meine Stimme.
    Ich blieb bei Verstand.
    Nach einer langen Zeit dann dieses Schaben. Diese Klappe, die sich – ich sah ja nichts! mühsam hab ichs herausgefunden – in Bodennähe öffnete. Der Napf, der hereingeschoben wurde, den ich umwarf, indem ich nach ihm tastete (das Wasser umwarf!), dann der Gerstenfladen. Dazu zum erstenmal das unflätige Gekreisch des einen dieser Weiber.
    Das war die Unterwelt. Doch ich war nicht begraben. Sollte nicht Hungers sterben. War ich enttäuscht?
    Ich brauchte nur die Nahrung zu verweigern.
    Es wäre leicht gewesen. Kann sein, sie hatten es erwartet. Nach zwei, drei Tagen, glaub ich, fing ich an zu essen. Und in den langen Zwischenzeiten – ich schlief kaum – zerrte, zupfte, bog und riß ich an der Weide. Etwas, das stärker war als alles, riß an mir. Ich dachte viele Tage nur das eine: Einmal muß es doch vorüber sein.
    Was denn.
    Ich weiß noch: Plötzlich hielt ich ein, saß lange ohne mich zu rühren, von der Einsicht wie vom Blitz getroffen: Das ist der Schmerz.
    Es war der Schmerz, den ich doch zu kennen glaubte. Jetzt sah ich: Bisher hatte er mich kaum gestreift. Wie man den Felsen nicht erkennt, der einen unter sich begräbt, und nur die Wucht des Anpralls spürt, so drohtemich der Schmerz um den Verlust all dessen, was ich »Vater« nannte, zu erdrücken. Daß ich ihn nennen konnte, daß er auf den Namen hörte, gab mir einen Hauch von Luft. Einmal mußte er doch vorübergehn. Ewig hält sich nichts. Dies war der zweite Hauch von Erleichterung, obwohl, Erleichterung ist schon zu viel gesagt. Es gibt einen Schmerz, der nicht mehr weh tut, weil er alles ist. Luft. Erde. Wasser. Jeder Bissen. Und jeder Atemzug, jede Bewegung. Nein, es ist unbeschreiblich. Ich sprach nie darüber. Niemand fragte mich danach.
    Die Weide. Jetzt hab ich sie losgemacht. Jetzt hab ich sie in der Hand. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern. Ich versteck sie. Niemand wird sie finden. Der Baum, von dem sie abgeschnitten wurde, wuchs am Fluß Skamander. Als der Schmerz mich losließ, fing ich an zu sprechen. Mit den Mäusen, die ich fütterte. Mit einer Schlange, die in einer Höhlung lebte und sich mir um den Hals schlang, wenn ich schlief. Dann mit dem Lichtstrahl, der durch die winzige Öffnung, aus der die Weidengerte ausgebrochen war, hereindrang. Das Pünktchen Licht gab mir den Tag zurück. Dann sprach ich, was sie gar nicht kannten, mit den Weibern. Sie warn der Auswurf Troias, während ich, über jedes Maß bevorzugt, über ihnen im Palast gewandelt war. Ihre rüde Schadenfreude war verständlich. Ich merkte, daß sie mich nicht verletzen konnten. Sie merktens

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