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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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höchste Vorrecht, das es gibt, genießen durften, in die finstere Gegenwart, die alle Zeit besetzt hält, einen schmalen Streifen Zukunft vorzuschieben. Anchises, der nicht müde wurde, uns vorzuhalten, das sei immer möglich; der zusehends schwächer wurde und nicht mehr an seinen Körben weiterflechten konnte; oft liegen mußte, aber weiter Lehren austeilte, die beweisen sollten, daß der Geist dem Körper über ist; der weiter mit Arisbe stritt, die er Große Mutter nannte (sie war noch massiger geworden, hüftlahm, überbrückte mit ihrer Trompetenstimme die Entfernung, die sie nicht mehr laufen konnte) – Anchises war es, glaube ich, der von ganzem Herzen unser Leben in den Höhlen liebte, ohne Vorbehalt, ohne Trauer und Bedenken. Der sich einen Traum erfüllte und uns Jüngre lehrte, wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt.
    Dann war es vorbei. Ich erwachte eines Mittags unter der Zypresse, unter der ich oft die heiße Tageszeit verbrachte, mit dem Gedanken: Trostlos. Wie alles trostlos ist. Das Wort kam wieder, riß in mir jedesmal den Abgrund auf.
    Dann kam ein Bote zu Oinone: Paris sei verwundet. Verlange nach ihr. Sie müsse ihn retten. Wir sahen zu, wie sie den Korb mit Kräutern, Binden und Tinkturen richtete. Gebeugt, ihr schöner weißer Hals, der kaumden Kopf noch tragen konnte. Paris hatte sie ja von sich abgetan, als er die vielen Mädchen brauchte. Ein Gram um diesen Mann war in sie eingefressen, nicht ihretwegen, seinetwegen: Sie verwand nicht, wie er sich veränderte. Sie blieb, wie die Natur, im Wechsel immer gleich. Fremd kam sie zurück. Paris war tot. Die Tempelärzte hatten sie zu spät gerufen. Qualvoll, am Wundbrand, war er eingegangen. Wieder eine, dacht ich, die mit diesem starren Blick geschlagen ist. Ich, die Schwester, sollte zu Paris’ Totenfeier kommen. Das tat ich, wollte Troia wiedersehn und fand ein Grab. Und Totengräber die Bewohner, alle; die nur noch lebten, um mit düsterm Pomp in jedem Toten sich selber zu bestatten. Die Begräbnisregeln, die die Priester immer mehr erweiterten und die peinlich einzuhalten waren, fraßen den Alltag auf. Gespenster trugen ein Gespenst zu Grabe. Unwirklicheres hatte ich nie gesehn. Und am schauerlichsten war die Gestalt des Königs, die, den verfallnen Leib in Purpur eingehüllt, von vier kräftigen jungen Kerlen vor dem Zug getragen wurde.
    Es war vorbei. Am Abend, auf der Mauer, hatte ich die Unterhaltung mit Aineias, nach der wir uns trennten. Myrine wich nicht mehr von mir. Sicher ist es eine Täuschung, daß das Licht über Troia in den letzten Tagen fahl war. Fahl die Gesichter. Vage, was wir sagten.
    Wir warteten.
    Der Zusammenbruch kam schnell. Das Ende dieses Krieges war seines Anfangs wert, schmählicher Betrug. Und meine Troer glaubten, was sie sahn, nicht, was sie wußten. Daß die Griechen abziehn würden! Und dieses Monstrum vor der Mauer stehenließen, das allePriester der Athene, der das Ding geweiht sein sollte, eilfertig »Pferd« zu nennen wagten. Also war das Ding ein »Pferd«. Warum so groß? Wer weiß. Ebenso groß wie die Ehrfurcht der geschlagnen Feinde vor Pallas Athene, die unsre Stadt beschützte.
    Holt das Pferd herein.
    Das ging zu weit, ich traute meinen Ohren nicht. Zuerst versuchte ich es sachlich: Seht ihr nicht, das Pferd ist viel zu groß für jedes unsrer Tore.
    So erweitern wir die Mauer.
    Jetzt rächte sich, daß sie mich kaum noch kannten. Der Schauder, der an meinem Namen hing, war schon verblaßt. Die Griechen haben ihn mir wieder angehängt. Die Troer lachten über mein Geschrei. Die ist verrückt. Los, brecht die Mauer auf! Nun holt doch schon das Pferd! Heftiger als jeder andre Trieb war ihr Bestreben, dies Siegeszeichen bei sich aufzustellen. So wie die Leute, die in irrem Taumel den Götzen in die Stadt beförderten, sahn keine Sieger aus. Ich fürchtete das Schlimmste, nicht, weil ich den Plan der Griechen Zug um Zug durchschaute, sondern weil ich den haltlosen Übermut der Troer sah. Ich schrie, bat, beschwor und redete in Zungen. Zum Vater kam ich nicht, der sei unpäßlich.
    Eumelos. Vor dem stand ich wieder. Sah das Gesicht, welches man von Mal zu Mal vergißt und das daher von Dauer ist. Ausdruckslos. Ehern. Unbelehrbar. Selbst wenn er mir glaubte – er würde sich den Troern nicht entgegenstellen. Sich vielleicht erschlagen lassen. Der überlebte nämlich. Und die Griechen würden ihn gebrauchen. Wohin wir immer kämen, dieser wär schon da. Und würde über uns

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