Kater mit Karma
Himmel.
Lydia stieg aus dem Pool, streifte ihr neues Calvin-Klein-Top über und kam zu mir.
»Ich kann mich gar nicht erinnere, wann ich das letzte Mal einen Sonnenuntergang gesehen habe«, sagte ich. »Ich meine, richtig gesehen.«
»Vielleicht kann man es als eine Form der Meditation verstehen«, sagte sie und rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken. »Wie die Schönheit jeder einzelnen Sekunde in die nächste übergeht.«
Ich erhob mich und ging mit ihr an den Rand der Terrasse, wo wir einen besseren Blick hatten. Als die Sonne hinter den Wolken versank, zogen sich majestätische Farbbänder zu roten und goldenen Pinselstrichen über den Himmel zusammen.
»Dieses Land ist magisch«, sagte ich und sah zu den Hügeln, die sich in der Ferne schwarz gegen den Himmel erhoben.
Lydia nickte schweigend.
»Du wirst dir eine neue Insel suchen müssen, wenn du weglaufen möchtest, nachdem ich dich hier gefunden habe«, sagte ich nur halb im Spaß.
Lydia lächelte.
»Wenn ich so alt wäre wie du, würde ich es nicht anders machen«, sagte ich. »Besonders wenn ich die Sprache sprechen würde.«
Der Moment war vollkommen. Am liebsten hätte ich ihn angehalten und für alle Zeiten bewahrt. Der goldene Abendhimmel, tropische Wärme, meine schöne, erwachsene Tochter in dem Land, dem sie sich zugehörig fühlte.
Oft schon hatte ich einen Moment einfangen wollen – einen schönen Weihnachtstag, den Sommer, in dem ich verrückt vor Liebe war, einen Herbstmorgen an einem Ententeich, als die kleine Lydia mit weit ausgestreckten Armen auf mich zugewackelt kam, damit ich ihr Federgewicht auffing.
Aber es hat keinen Sinn, an einem Moment festhalten zu wollen – oder auch an Töchtern. Man sollte sie genießen, sein Bestes tun und sie dann mit Anstand ziehen lassen.
Die Zeit bleibt nicht stehen. Schöne Momente können in andere, noch schönere Momente übergehen. Jeder Moment, selbst der traurigste, kann erfüllender sein als der zuvor.
Das Entscheidende ist offen zu sein und Vertrauen zu haben, und genügend Weisheit, um einen Schritt zur Seite zu machen und dem Neuen Raum zur Entfaltung zu geben. Damit man keiner der hungrigen Geister wird, die die Vergangenheit betrauern und sich stets nach der Zukunft sehnen.
Die roten und goldenen Pinselstriche verwandelten sich allmählich in Violett. Die Stimmen der Mönche hüllten uns in ihre fließenden Harmonien.
»Ich liebe dieses Land wirklich«, wiederholte Lydia, als wir zusahen, wie die Hügel ein mystisches Lila annahmen. »Aber ich habe genug getan.«
Einen Moment verschlug es mir die Sprache.
»Als ich anfing zu meditieren, dachte ich, wenn ich mich nur genug anstrenge, dann würde etwas ganz Großes passieren«, fuhr sie mit leicht zitternder Stimme fort. »Wissenschaftler haben in Untersuchungen herausgefunden, dass bei Menschen, die sich höheren Bewusstseinsebenen nähern, messbare Änderungen im Gehirn stattfinden. Ich dachte, dass ich das eines Tages auch erreichen könnte. Dass ich vielleicht sogar …«
Der Rest von Lydias Satz hing unausgesprochen zwischen uns. Bitte sag jetzt nicht, dass es schwer zu erklären ist , dachte ich.
»Erleuchtung findest?«, fragte ich leise.
Der Franzose zündete sich eine Zigarette an und die Deutsche wickelte ihr Kind in ein Handtuch.
Eine kristallklare Träne rollte über Lydias Wange. Ihr Schmerz war tief.
»Ich dachte, wenn ich nur lange genug hierbliebe, dann …«, sagte sie und fing an zu weinen.
Ich nahm sie in die Arme.
In all der Zeit, in der ich geglaubt hatte, sie lehne sich gegen uns auf, hatte Lydia ein unerreichbares Ziel angestrebt. An der Universität hatte sie dieselbe Entschlossenheit an den Tag gelegt. Wenn sie sich erst einmal etwas vorgenommen hatte, richtete sie ihre ganze Kraft darauf.
Ich fragte mich, was sie antrieb und ob es etwas damit zu tun haben könnte, dass sie in eine trauernde Familie hineingeboren worden war, mit einem älteren Bruder, den sie nie kennengelernt hatte. Sie war zwar niemals ein Ersatz für Sam gewesen, aber wenn er nicht überfahren worden wäre, hätte es sie gar nicht gegeben. Vielleicht hatte unsere geliebte Tochter wirklich die schwere Bürde auf sich genommen, unsere gebrochenen Herzen zu heilen.
Auch wenn ich mich immer bemüht hatte, Sam nicht als Heiligen erscheinen zu lassen, war er ihr vielleicht so vorgekommen. Vielleicht war sie unbewusst in Konkurrenz mit einem älteren Bruder aufgewachsen, der keine Fehler hatte, weil er tot war.
»Ich habe
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