Kates Geheimnis
Verstand auf einmal zu ihrem Entsetzen völlig aus.
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Für einen Moment war sie vollkommen
desorientiert. Panik erfasste sie. Sie wusste nicht, wo sie war, und warum. Sie wusste nicht, wer sie war.
Die Menschenmenge um sie herum, die große Halle, alles war nur noch ein Meer aus Schatten und Schemen. Sie konnte nichts und niemanden erkennen.
Selbst die Worte auf den Hinweisschildern wurden zu einem fremdartigen Kauderwelsch, das sie nicht lesen konnte.
Aber überall waren Augen. Auf sie gerichtet, weit aufgerissen und vorwurfsvoll, hunderte feindseliger Blicke.
Warum glotzten alle sie an, als wünschten sie, sie wäre tot? Jill wollte sich umdrehen und fliehen, aber wohin?
Tot.
Im nächsten Augenblick schaltete ihr Verstand wieder in den richtigen Gang, die Schatten wurden zu Wänden und Türen, Gängen und Geländern, die Schemen zu Menschen, die Augen zu Gesichtern, und sie wusste, dass alles noch viel schlimmer war. Die Leute starrten sie tatsächlich an, aber schließlich weinte sie unaufhörlich, und sie war in Heathrow, um Hals Leichnam nach Hause zu seiner Familie zu bringen - morgen sollte die Beerdigung stattfinden.
Wussten alle diese Leute hier, dass sie den Mann ihrer Träume umgebracht hatte? Jill wünschte, sie hätte sich nicht wieder an alles erinnert. Das kurze 19
Aussetzen ihres Gedächtnisses empfand sie nun als herrliche Erleichterung.
So ging es ihr andauernd seit Hals Tod - sie wusste nicht, was sie tun sollte, erlebte Augenblicke schrecklicher Verwirrung, gefolgt von totalen Aussetzern und dann von vollkommener, grausamer Erinnerung. Schock, hatte der Arzt gesagt. Sie würde die nächsten paar Tage unter Schock stehen, vielleicht sogar die nächsten Wochen. Er hatte ihr geraten, sich zu Hause auszuruhen und die Medikamente zu nehmen, die er ihr verschrieben hatte.
Jill hatte die Antidepressiva nach der ersten Nacht in der Toilette hinuntergespült. Sie hatte Hal so sehr geliebt, und sie wollte sich ihre Gefühle nicht rauben lassen, indem sie sie mit Tabletten dämpfte oder ausschaltete. Sie würde ihn betrauern, wie sie ihn geliebt hatte, mit ganzem Herzen, auf ewig.
Jill nahm ihre Sonnenbrille ab und trocknete ihre Tränen mit einem Taschentuch, bevor sie sie wieder aufsetzte. Ihr Gepäck. Sie musste ihre Reisetasche finden und hier herauskommen, so lange sie noch bei sich war und sich auf den Beinen halten konnte. Das Einzige, was sie jetzt tun musste, entschied Jill, war möglichst nicht zu denken.
Ihre eigenen Gedanken waren ihr schlimmster Feind.
Jill schaute nach unten und entdeckte neben ihren Füßen ihr Beauty-Case, ihre Shoppertasche aus Vinyl mit Leopardenmuster und ihren viel zu weiten 20
schwarzen Blazer. Sie richtete den Blick auf das Gepäckband. Überrascht stellte sie fest, dass die meisten Koffer und Taschen schon abgeholt worden waren. Es schien ihr, als sei sie noch vor wenigen Sekunden von hundert Passagieren ihres Fluges umgeben gewesen - jetzt warteten nur noch ein Dutzend Leute auf ihr Gepäck. Jill schnappte erschrocken nach Luft. Hatte sie ein Blackout gehabt?
Irgendwie schien sie mit ihrer Erinnerung auch ihr Zeitgefühl verloren zu haben.
Sie fragte sich, wie sie das alles überstehen sollte, nicht nur die nächsten Tage, sondern auch die nächsten Wochen, Monate, Jahre.
Denk nicht daran!, befahl sie sich hektisch. Sie durfte ihren Gedanken keinen freien Lauf lassen.
Plötzlich entdeckte sie ihre Reisetasche aus schwarzem Nylon. Sie glitt bereits an ihr vorbei. Jill hastete verzweifelt hinterher, packte den Griff und hievte die Tasche vom Band. Die Anstrengung kam sie teuer zu stehen;
keuchend verharrte sie einen Moment. Sie war noch nie so unglaublich erschöpft gewesen.
Als sie wieder zu Atem gekommen war, blickte sie sich in der wimmelnden Menge um. Wohin sollte sie jetzt gehen? Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie Lauren finden, die sie nur von einem Foto kannte?
Jill stand da wie angewurzelt und musste trotz ihrer Vorsätze daran denken, wie Hal ihr damals stolz die Fotos von seiner Familie gezeigt hatte. Hal hatte oft 21
von ihnen gesprochen, nicht nur von seiner Schwester, sondern auch von seinem älteren Bruder Thomas, seinen Eltern und seinem Cousin aus Amerika. Seinen Schilderungen zufolge standen sich in seiner Familie alle sehr nahe. Es war so offensichtlich gewesen, wie sehr er sie liebte. Er hatte richtig gestrahlt, wenn er ihr Geschichten aus seiner Kindheit erzählte. Am häufigsten hatte er von den Sommerferien in
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