Katie außer Rand und Band - wie eine Hundedame unser Herz eroberte
Monate lang New York verlassen musste. Einige Zeit würde ich im südpazifischen Raum leben, einige Zeit in Kalifornien und in British Columbia.
»Wie schön!«, rief Granny und reichte mir einen glasierten Keks. Wie immer versteckte sie ihre wahren Gefühle. »Aber was sollen wir tun, wenn wir dich nicht mehr bei uns haben?«
Wir planten, dass sich Naia weiter um Pearl kümmern und Lee sie möglichst oft besuchen sollte. Ich würde täglich anrufen. Trotzdem war mir klar, dass es für sie schwierig werden würde. Doch ich muss zugeben, ich freute mich darauf, New York eine Weile hinter mir lassen zu können. Ich war erleichtert, unserem mittlerweile bedrückend wirkenden Flur und dem strengen Winter in Battery Park City entfliehen und einen anderen Teil der Welt sehen zu können, vor allem den südpazifischen Raum.
Doch als ich meinen Laptop und vier Koffer für meine Überseereise packte, bekam ich Gewissensbisse, Pearl allein zu lassen, obschon ich keine Zweifel hatte, dass Naia auch ohne mich zurechtkommen würde.
Am Tag des Abschieds umarmte ich Pearl, die wie so oft im Bett lag, und drückte sie fest an mich. »Granny, dass mir keine Klagen kommen! Und treib die arme Naia nicht in den Wahnsinn!«
»Doch, das werde ich«, erwiderte sie schelmisch und drückte meinen Arm. Als ich ihr einen Luftkuss zuwarf, winkte sie stoisch.
»Viel Spaß, und ruf mich an!«
Und ich stürzte mich in ein großes Abenteuer.
Gelegentlich machte ich einen Abstecher nach Hause, doch meine Arbeit hielt mich auf Trab. Wenn ich Pearl besuchte, schien sie noch stärker in sich gekehrt. Mir war natürlich klar, dass meine Abwesenheit ihre Welt und ihr soziales Netzwerk spürbar verkleinerte. Doch Lee kümmerte sich rührend um sie, wofür ich ihr bis heute dankbar bin. Sie lud sie zum Mittagessen ein, ging mit ihr spazieren und war sogar so freundlich, sich in meiner Abwesenheit neben Grannys Post und Rechnungen auch noch um meine Korrespondenz zu kümmern.
»Als ich Pearl kennenlernte, erkannte ich bald, dass sie jemand war, der nicht sehr viel umarmt worden ist«, erinnerte sich Lee. »In ihrem Leben hatte es offenbar nicht viel körperliche Wärme gegeben. Ich fing an, sie zu umarmen und zu küssen und ihr die Hand zu streicheln. Anfangs war sie sehr steif. Aber vor allem nach Katies Tod begann sie, die Umarmungen zu erwidern.
Jedes Mal, wenn ich aus ihrem Schlafzimmer ging, sagte ich: ›Ich liebe dich, Pearlie Girlie!‹ Sie sah mir dann immer nur wortlos nach. Doch als ich einmal vergaß, sie zum Abschied zu umarmen und zu küssen, meinte sie: ›Oh, heute kein Küsschen?‹ Und bald danach fing sie an, mir zu sagen: ›Ich liebe dich auch.‹«
In jenem Frühling lud ich die neuen Freunde, die ich in Australien und in Palm Springs gefunden hatte, zu meinem Geburtstag ein, den ich zu Hause feierte. Doch Granny tauchte nicht wie früher zum Nachtisch auf. Sie war einfach nicht in der Stimmung, sie konnte solche Feste nicht mehr genießen.
Im Spätherbst 2003 konnte die Älteste in der Wohnung zwar noch laufen, solange Naia sie stützte, doch weil sie sich so unsicher auf den Beinen fühlte, unternahm sie Ausflüge nur noch im Rollstuhl.
Einmal lief ich Naia und Granny draußen am Ufer über den Weg. Ich spürte, wie verlegen es Pearl machte, in aller Öffentlichkeit von mir im Rollstuhl gesehen zu werden. Es verletzte ihren Stolz.
Es bedrückte mich, sie so gebrechlich und verletzlich zu sehen, aber an jenem Tag hatte sie auch etwas Tapferes an sich. Die stürmischen Battery-Böen wehten ihre Haare nach hinten. Dank Naias Hilfe war sie ein wenig geschminkt und hübsch angezogen. Ihr flotter orangefarbener Seidenschal flatterte im Wind. Und obwohl sie etwas abwesend und passiver als sonst wirkte, freute sie sich doch, wenn sie Nachbarn traf, die sie kannte. Sie stellte Fragen, lächelte und machte lustige Bemerkungen.
Sie war noch immer Granny, nur sehr nach innen gekehrt – und sehr traurig.
Sie hatte in sechzehn Jahren sehr viel verloren: ihren Mann, John und Ryan, Katie und jetzt in gewisser Weise auch mich, weil ich so viel unterwegs war.
John gestand sie damals, dass sie manchmal betete, sterben zu dürfen. »Sie hat nicht verstanden, warum Gott sie weiter leben ließ, und sie wollte so gern wieder mit Arthur vereint sein«, erinnerte sich John.
»Warum bin ich überhaupt noch hier?«, fragte sie mich einmal verzweifelt.
»Granny!«, rief ich und versuchte, diese herzzerreißende Frage nicht an mich
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