Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
solltet euch beide schämen. Warum lasst ihr euch nicht gegenseitig in Ruhe? Jeder malt so gut wie er kann.“
In diesem Augenblick kam Tommy auf unsicheren Beinen in die Küche gelaufen. Er stolperte auf Roberta zu und hielt eine durchgeweichte Rolle Toilettenpapier in der Hand. „Da!“ rief er und seine Augen leuchteten voller Stolz, als er seiner Mutter das tropfende Bündel wie eine Trophäe entgegenstreckte.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis Roberta die Überschwemmung im Badezimmer beseitigt hatte. Sie legte den Kindern eine Videokassette ein, Bernhard und Bianca, und versuchte ihr schlechtes Gewissen angesichts dieser aus pädagogischer Sicht unverantwortlichen Maßname mit dem Argument zu beruhigen, dass niemand perfekt ist und dass auch Mütter letztendlich nur Menschen sind. Peter war jetzt seit zwei Tagen auf Geschäftsreise und vierundzwanzig Stunden am Tag für drei kleine Kinder allein die Verantwortung zu tragen ist keine leichte Aufgabe.
Roberta betrachtete Johanna, David und Tommy, die jetzt einträchtig nebeneinander auf der Couch saßen und auf den Bildschirm starrten. Es gab Momente, in denen sie gern mit Katrin tauschen würde, in denen sie ihre Freundin beneidete, um ihre Unabhängigkeit, und die Freiheit, nur an sich selbst denken zu müssen. Aber das waren immer nur kurze Augenblicke. Ein Leben wie Katrins würde ihr leer und sinnlos vorkommen.
Sie ging in die Küche. Ein Geräusch von der Straße lenkte ihren Blick zum Fenster. Schräg gegenüber ihrer Wohnung befand sich eine riesige Baustelle. Dort zogen sie ein Bürogebäude mit zehn Etagen hoch. Der Rohbau stand bereits. Kein besonders wohnlicher Anblick. Das kahle Gerippe ragte unwirklich und kalt, beinahe bedrohlich in den grauen Himmel. Mit ein wenig Glück würde sie den Anblick nicht mehr lange ertragen müssen. Wenn alles gut ging, konnten sie im nächsten Frühjahr endlich mit dem Haus anfangen. Das Grundstück in Grimlinghausen hatten sie schon. Und wenn alles glatt lief, dann würden sie vielleicht nächstes Jahr Weihnachten schon in den eigenen vier Wänden feiern, in einem Haus auf dem Land, mit viel Platz und einem Garten, in dem die Kinder toben konnten. Roberta wandte sich vom Fenster ab. Sie ging in die Diele, um Katrin anzurufen und für den Nachmittag zum Kaffee einzuladen. Sie brauchte dringend Gesellschaft, jemanden der sie aufmunterte und mit dem sie ein wenig über belanglose Dinge plaudern konnte.
Katrin spürte ein leichtes Ziehen im Magen, als sie durch das eiserne Schultor trat. Der rot verklinkerte Flachbau aus den späten sechziger Jahren lag still im Licht einiger zaghafter Sonnenstrahlen, die sich durch ein kleines Schlupfloch in der unerbittlichen Wolkendecke gekämpft hatten. Es war wohl gerade Unterricht. Unter dem Vordach der Pausenhalle standen Fahrräder in engen Reihen. In der Luft lag ein schwacher bitterer Geruch nach Hefe und Hopfen. Das Abluftrohr der bekannten Düsseldorfer Brauerei mündete direkt auf den Schulhof. Katrin zog die Glastür auf und stieg die Treppe zum Verwaltungstrakt hoch. Frau Reinhardt war in ihrem Büro. Die Sekretärin führte sie hinein.
„Hier ist jemand wegen der Sachen von Tamara Arnold.“
„Sie sind doch eine ehemalige Schülerin, wenn ich mich nicht irre? Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor.“ Frau Reinhardt stand auf und streckte ihr die Hand entgegen.
„Katrin Sandmann. Ich habe vor neun Jahren Abitur gemacht.“
„Es freut mich Sie zu sehen, Frau Sandmann. Wie geht es Ihnen?“
„Mir geht es sehr gut. Ich bin jetzt Fotografin.“
„Wie schön. Sie sind wegen Tamara hier?“ Frau Reinhardts Stimme klang plötzlich ernst. „Eine schreckliche Geschichte. Vor allem, wenn man daran denkt …“
Sie sprach nicht weiter, aber Katrin wusste, woran sie dachte. Tamara war nicht die erste Schülerin des Schiller-Gymnasiums, die unter sonderbaren Umständen zu Tode gekommen war. Auch wenn der andere Fall jetzt bereits über zehn Jahre zurücklag. „Wenn ein so junger Mensch sich das Leben nimmt, ist das immer besonders tragisch und man fragt sich, ob man es nicht hätte verhindern können.“ Die Schulleiterin wusste offensichtlich noch nichts davon, dass es sich bei diesem Fall vielleicht gar nicht um Selbstmord handelte. Aber Katrin hielt es nicht für ihre Aufgabe, den Irrtum zu berichtigen.
„Tamaras Eltern haben mich gebeten, die Sachen ihrer Tochter für sie abzuholen.“
„Selbstverständlich.“
Katrin folgte Frau Reinhardt ins
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