Katz und Maus
verbindet.
Eine gute Stunde lang liefen wir von Neuschottland nach Schellmühl und wieder zurück und abermals den langen Posadowskiweg hoch. In den Windschatten von mindestens zwei Litfaßsäulen, die von immer denselben Kohlenklau- und Groschengrabplakaten rund waren, drückten wir uns, kamen wieder ins Laufen. Vom Haupteingang der Städtischen Frauenklinik aus sahen wir die vertraute Kulisse: hinter dem Bahndamm und schweren Kastanien lockten Giebel und Turmhelm des standfesten Gymnasiums; aber er guckte nicht oder sah was anderes. Dann standen wir eine halbe Stunde lang in dem Wartehäuschen der Haltestelle Reichskolonie mit drei oder vier Volksschülern unterm selben lauten Blechdach. Die Jungs boxten sich mäßig und drückten einander von der Bank. Nützte nicht viel, daß Mahlke ihnen den Rücken drehte. Zwei kamen mit aufgeschlagenen Schulheften, sprachen breitestes Bocksch durcheinander, und ich sagte: »Habt ihr denn keine Schule?« »Nä äst om Naine, wann wä ieberhaupt jähn.« »Gebt schon her – aber dalli.«
Mahlke setzte jeweils auf die letzte Seite beider Hefte oben links seinen Namen und Dienstrang. Die Jungs waren nicht zufrieden, wollten außerdem die genaue Zahl der abgeschossenen Panzer vermerkt haben –und Mahlke gab nach, schrieb, als füllte er Postanweisungen aus, zuerst mit Zahlen, dann mit Buchstaben, und mußte noch in zwei weitere Hefte mit meinem Füllhalter seinen Vers setzen. Schon wollte ich ihm den Füller abnehmen, als einer der Jungs wissen wollte: »Wo ham Se die dän abjeknallt bei Bjälgerott oder bai Schietemier?« Mahlke hätte nicken und Ruhe schaffen sollen. Er flüsterte aber mit belegter Stimme: »Nein, Jungs, die meisten im Raum von Kovel–Brody–Brezany. Und im April, als wir die erste Panzerarmee bei Buczacz herausholten.«
Ich mußte den Füllhalter noch einmal aufschrauben. Die Jungs wollten alles schriftlich haben und pfiffen zwei weitere Volksschüler aus dem Regen in das Wartehäuschen. Immer derselbe Jungensrücken hielt als Schreibunterlage still. Der wollte sich strecken, gleichfalls ein Heft vorzeigen, aber sie ließen es nicht geschehen: einer muß hinhalten. Und Mahlke mußte mit zunehmend zitternder Schrift – auch sprang ihm wieder der helle Schweiß aus den Poren – Kovel schreiben und Brody-Brezany, Cerkassy und Buczacz. Fragen kamen aus blankverschmierten Gesichtern: »Warrn Se och bai Kriewäurock?« Jeder Mund offen. In jedem Mund fehlten Zähne. Augen vom Großvater väterlicherseits. Ohren ganz aus Mutters Familie. Naslöcher hatte jeder: »Ond wo wärrden Se nu hinvälecht?« »Mansch, darffä nech sagen nech, waas frräkst?« »Watten wä, inne Inwasjon?« »Dem schparrn se auf fier nachem Kriech.« »Frag ihm mal, obber och baim Fiehrä war jewäsen?« »Onkel warrste?«
»Sag ma, siehss nech, dessä Ontroffzier is?« »Ham Se kain Pfoto von sech bai sech?« »Wä sammeln nämlech.« »Wielank ham Se aijentlich noch Uälaup?« »Jo, wielank noch?« »Send Se morjen noch da?« »Oder wann ist Ja Uälaup vorbai?«
Mahlke brach durch. Tornister ließen ihn stolpern. Mein Füller blieb in dem Häuschen. Dauerlauf in schräger Schraffur. Seite an Seite durch Pfützen: Regen verbindet. Erst hinter dem Sportplatz fielen die Jungens zurück. Noch lange riefen sie und mußten nicht zur Schule. Noch heute wollen sie mir meinen Füllfederhalter zurückgeben. Erst zwischen den Schrebergärten hinter Neuschottland versuchten wir ruhiger zu atmen. Ich hatte Wut im Bauch, und die Wut bekam Junge. Mit dem Zeigefinger tippte ich auffordernd gegen den verdammten Bonbon, und Mahlke nahm ihn sich hastig vom Hals. Auch er hing, wie Jahre zuvor der Schraubenzieher, an einem Schnürsenkel. Mahlke wollte ihn mir geben, doch ich winkte ab: »Laß man, danke für Obst.«
Aber er warf das Eisen nicht in die nassen Büsche, sondern hatte eine Gesäßtasche.
Wie komm ich hier weg? Die Stachelbeeren knapp hinter behelfsmäßigen Zäunen waren unreif: Mahlke begann mit zwei Händen zu pflücken. Mein Vorwand suchte nach Worten. Er futterte und spuckte Schlauben. »Wart hier ne halbe Stunde. Du mußt unbedingt Proviant mitnehmen, sonst hältste das nicht lange aus auf dem Kahn.« Hätte Mahlke gesagt: »Komm aber wieder!« ich hätt' mich verdrückt. Er nickte kaum, als ich ging, rupfte mit zehn Fingern aus Sträuchern zwischen Zaunlatten, zwang mich mit vollem Mund, auszuhalten: Regen verbindet.
Es öffnete Mahlkes Tante. Gut, daß seine Mutter nicht zu Hause
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