Katzenhöhle
hielten. Ihre fast bodenlangen Haare schmiegten sich so eng um die Körper, als wollten sie diese vor allzu neugierigen Blicken verbergen. Und doch zeigte sich dazwischen ein entblößter Arm oder ein schlanker Rücken, so dass die Ausprägung der weiblichen Formen nicht ganz der Phantasie überlassen war. Die Art ihrer intimen Begegnung war es ohnehin nicht. Auch die anderen Plastiken zeigten ähnliche Situationen. Nur die Stellungen der Beteiligten – Männer und Frauen in den unterschiedlichsten Kombinationen – variierten.
Lilian schickte den Mann hinaus. Sie war beeindruckt. Nicht, weil sie solche Skulpturen noch nie zu Gesicht bekommen hätte. Viel mehr faszinierte sie die Vollkommenheit dieser Bildhauerkunst und eine reine, fast unschuldige Darstellungsweise von durchaus anrüchigen Szenen. Etwas Vergleichbares hatte sie nur bei Figuren des französischen Bildhauers Rodin gesehen.
Auf dem Sofa lag die Leiche einer Frau, seitlich vornüber gesunken. Sie trug einen blau-weiß-gestreiften Bademantel. Schwarze Haare, jetzt blutverklebt, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine große Wunde klaffte am seitlichen Hinterkopf schräg über dem linken Ohr, Frotteemantel und Sofakissen waren voller Blut, es war bereits eingetrocknet. Auf dem Boden lag eine Marmorplastik, ebenfalls blutverschmiert. Ein halbvolles Glas stand auf einem Tisch vor der Couch. Lilian roch daran: Whisky. Sie beugte sich über die Frau und berührte sie an der Hand. Sie war noch warm. Die Frau kam Lilian bekannt vor. Vielleicht war sie ihr einmal beim Einkaufen über den Weg gelaufen. Hier in dieser Gegend traf man oft vertraute Gesichter.
Sie richtete sich auf. »Erzähl mal.«
»Sie wurde mit einem schweren Gegenstand erschlagen, so wie’s aussieht mit der Marmorstatue, die da liegt«, fing Kuhnert an. »Der Schlag wurde von hinten ausgeführt, mit voller Wucht. Sie muss sofort tot gewesen sein – oder zumindest das Bewusstsein verloren haben, hat der Notarzt gesagt. Im Bad war ein Fenster offen. Vielleicht hat sie vergessen, es zuzumachen. Sie hat wohl vorher gebadet, denn als wir ankamen, war das Wasser in der Wanne noch warm. Sieht so aus, als sei der Täter durch das Fenster in die Wohnung gekommen.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Ihre Schwester.«
»Wo ist sie?«
»In der Küche.«
»Wie geht’s ihr?«
»Erstaunlich gut. Macht einen ziemlich gefassten Eindruck.«
»Ich will mit ihr reden.«
Die Frau in der Küche stand am Fenster und starrte hinaus in die spärlich erleuchtete Dunkelheit. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Wie silberhelle Fäden fielen die feinen Tropfen auf die Straße und verwandelten diese in einen übergroßen Spiegel, dessen Helligkeit sich in alle Richtungen verlor. Wenn es nicht wieder kälter wurde, würde der Regen die letzten Schneereste auch in den hintersten Ecken zum Verschwinden bringen.
»Guten Abend, ich bin Kriminaloberkommissarin Lilian Graf von der Kripo Regensburg. Es tut mir Leid, dass …«
»Sparen Sie sich den Schmus.«
Die Frau drehte sich nicht um. Sie schaute unentwegt aus dem Fenster, als wäre sie sich Lilians Gegenwart nicht bewusst. Auch sie trug die Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Nur die Haarfarbe war etwas heller, ein mattes Braun.
»Sie tun auch nur Ihren Job. Also, was wollen Sie wissen?«
Eine mehr als direkte Antwort auf eine noch nicht einmal gestellte Frage.
»Sie haben Ihre Schwester gefunden. Wann genau war das?«
»Vor einer dreiviertel Stunde.«
»Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?«
»Mit dem Schlüssel.«
»Die Tür war also nicht auf?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Was passierte, als Sie die Wohnung betraten?«
»Ich wollte nur schnell den Stadtplan holen, den hatte ich in der Garderobe liegengelassen. Ich nahm ihn, rief kurz: ›Hab was vergessen, bin gleich wieder weg!‹ und wollte schon wieder los. Da hörte ich ein Geräusch, so eine Art Poltern. Ich wollte nachschauen, was das war, und ging ins Wohnzimmer.«
Sie legte den Kopf an die Fensterscheibe, als sei er ihr auf einmal zu schwer geworden.
Lilian war irritiert. Sie redete nicht gern mit jemandem, der ihr den Rücken zuwandte. Außerdem benahm sich die Frau seltsam. Zuerst dieser unerwartet forsche Ton und jetzt eine noch unerwartetere Gefühlsdusselei. Aber gut, die meisten Menschen, die eine Leiche fanden, reagierten nicht so, wie sie hätten reagieren sollen – auch wenn es nicht die eigene Schwester war.
In der Mitte der kleinen Küche stand ein Tisch.
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