Katzenmond
provozieren. Er wird zunächst versuchen, von der Nachbarschaft angenommen zu werden, ehe er seine Netze weiter auslegt. Ich werde euch sagen, wie es vor sich gehen wird: Eine Weile lang werden die Dirnen nur so durch die Gegend streunen, lockere Kontakte knüpfen, Omas über die Straße helfen und so tun, als wären sie welche von uns. Und abends sitzen sie hier im Katinka und klappern maximal ein bisschen mit den Wimpern. Die beiden dahinten zum Beispiel, kennt die jemand?«
Zwei Tische weiter unterhielten sich zwei junge Frauen über ihre Weingläser hinweg. Eine von ihnen hatte prachtvolle rote Locken, die andere sah in erster Linie nett aus. Keine von beiden schien sich sonderlich um die anwesenden Herren zu kümmern.
»Die Rothaarige hat was«, sagte Moritz, Restaurator und festes Stammtischmitglied. »Und die andere hätte was, wenn sie ihrem Teint ein bisschen auf die Sprünge helfen würde.«
»Sie ist nicht im Dienst«, verteidigte sich Ralph. »Die greifen erst in den Farbtopf, wenn sie in Aktion treten.«
Die Tür öffnete sich, und ein Pärchen betrat die Bar. Nach kurzer Rundschau steuerte der Mann auf den Tisch mit den Mädchen zu. Er hatte ihn fast erreicht, als seine Frau ihn am Arm packte und zum Tresen zog, wo zwischen einigen Jungs in Fußballtrikots zwei Barhocker frei waren. Mit enttäuschter Miene ließ ihr Mann sich dort nieder.
»Seht ihr«, knurrte Ralph. »Es geht schon los.«
Damals im Juli hatte Liebermann die Verschwörungstheorien seines Freundes belächelt. Er verstand sie als Kampf um die Seelenruhe eines Toten, der für weibliche Reize wenig übrig gehabt hatte. So wie Tante Lehmann, die Kiezkrämerin, um die Seelenruhe des Viertels kämpfte, indem sie jeden neuen Kunden argwöhnisch nach seiner Herkunft befragte. In letzter Zeit beschränkte sie sich dabei ausschließlich auf Kundinnen.
Im August waren, trotz erhöhter Aufmerksamkeit von Liebermanns Seite, noch immer keine Lackstiefel zwischen den Kastanien der Geschwister-Scholl-Straße gesichtet worden, dafür aber vermehrt männliche Spaziergänger, die wie zufällig vor der Villa mit dem goldenen Schild Halt machten und sie gedankenverloren betrachteten. Einmal hatte er seinen Vermieter, den alten Bellin, dort getroffen und ein paar verlegene Worte mit ihm gewechselt. Bellin hatte starkes Interesse an einer bestimmten Blumensorte bekundet, die in Steinurnen zu beiden Seiten des Tores wuchs, worauf Liebermann einige Kastanien vorgezeigt hatte, die Miri und Zyra zum Basteln benötigten. Danach waren sie ziemlich hastig auseinandergegangen.
Ungefähr zur selben Zeit waren die ersten Gesprächsfetzen an sein Ohr gedrungen, im Grunde harmlos, aber sie gaben Liebermann zu denken. Ein Jugendlicher prahlte vor seinem Freund damit, eine der »Schnecken für umsonst« gehabt zu haben. EineFrau berichtete einer anderen unter dem Mantel der Loyalität, sie habe deren Mann mit einer jungen Unbekannten im Park getroffen, was natürlich nichts bedeuten müsse, sie wolle es ihr nur sagen. Und Tante Lehmann vertraute Liebermann an, sie wisse aus sicherer Quelle, dass die Aphrodite das Hauptquartier einer internationalen Sekte sei, in der man mittels unvorstellbarer Orgien göttliche Energie zu erlangen suche. »Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, alles durcheinander und in großen Gruppen, wie die Tiere. Das reinste Mittelalter, sag ich Ihnen.«
Liebermann, dem die erotische Vielfalt des Mittelalters bisher entgangen war, erkundigte sich nach ihrer Quelle. Aber da winkte Tante Lehmann ab. Wozu Namen, das würde nur dem Tratsch Vorschub leisten, wichtig seien schließlich die Fakten. Kürzlich habe ein Mädchen zwei Stangen Sellerie gekauft. Damit sei ja wohl alles gesagt.
2
Am Montag, dem 13. September, fehlten zwei Mitglieder der Stammtischrunde im Katinka.
Nils, der universelle Hausmeister des Viertels, befand sich aus Gründen, über die man geflissentlich schwieg, im Gefängnis und galt als entschuldigt. In ebenso schweigendem Einverständnis hielt man ihm jedoch stets einen Platz frei. Ralphs Nachbarin Laura hatte ausrichten lassen, dass sie später käme, weil sie noch an der Uni zu tun hatte.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis Moritz und Ralph sich in ihrem neuen Lieblingsstreitthema verstrickt hatten. Während Liebermann versuchte, Nicos aufmerksamen Gesichtsausdruck nachzuahmen, schweiften seine Gedanken in ein fiktives Büro zu einem fiktiven Schreibtisch, auf dem sich Bilder verwesender Leichen stapelten, die ihn aus
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