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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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aufgekommen, was wir bislang gar nicht gemerkt hatten. Ich hielt mich an Ramadhin, doch Cassius hatte sich Niemeyer und Asuntha genähert, dem Mädchen, das sein Mitgefühl geweckt hatte, das er zu beschützen versucht hatte. Nicht weit von mir entfernt sah ich Emily. Die Stimme, die alle aufgefordert hatte, den Schlüssel nicht herzugeben, war die Stimme Mr. Giggs’ gewesen, hoch über uns auf der Brücke, mitten im Licht. Und die Pistole, die er in die Luft abgefeuert hatte, hielt er nun auf den Gefangenen und das Mädchen in dessen Armen gerichtet. Mr. Giggs und der Kapitän neben ihm riefen der Mannschaft Befehle zu, und das Schiff bebte und verlangsamte seine Fahrt. Wir hörten, wie die Wellen sich am Schiffskörper brachen. Nichts rührte sich. In der Ferne bezeichneten vereinzelte Lichter eine Küste auf der Steuerbordseite.
    In diesen Sekunden, als das Mädchen in den Armen seines Vaters hochgehalten wurde, blickte ich zurück zu Mr. Giggs auf der Brücke. Es stand außer Frage, dass alles, was nun geschehen würde, von ihm abhing.
    »Los, runter!« schrie er. Aber Niemeyer gehorchte nicht. Er blieb, wo er war. Er sah zu dem Meer unter sich hinunter. Das Mädchen sah nirgends hin. Giggs hielt die Pistole auf den Gefangenen gerichtet. Ein Schuss fiel. Und wie auf ein Signal ruckte das Schiff und begann wieder Fahrt aufzunehmen.
    Ich drehte mich zu Niemeyer um und sah Emily. Sie beobachtete gebannt etwas am anderen Ende des Decks. Ich blickte schnell in die gleiche Richtung, und im selben Augenblick sah ich, wie Miss Lasqueti etwas ins Meer warf. Hätte ich mich nur eine Sekunde später umgedreht, hätte ich kurz gewartet, hätte ich nichts zu sehen bekommen.
    Niemeyer verharrte ganz reglos, als wartete er darauf, den Schmerz zu spüren. Die Kette von einem halben Meter Länge zwischen seinen Händen hing vor ihm hinunter. Hatte die Kugel ihn verfehlt? Er sah zu Giggs hin, der mit einer Hand den anderen Arm an sich presste. Giggs’ Pistole war unter der Brücke auf Deck aufgeschlagen und hatte einen Schuss in die Dunkelheit abgegeben. Fast alle blickten zu Niemeyer und dem Mädchen oder zu der Brücke hin. Doch ich wendete meinen Blick nicht von Miss Lasqueti ab und sah, wie sie im Handumdrehen wieder ganz ahnungslos wirkte, als wäre sie nur ein Gaffer wie die anderen, so dass mir das, was ich mit angesehen hatte, wie eine Halluzination vorkam. Die Bewegung eines Arms, der einen Gegenstand ins Meer warf, musste nichts bedeuten. Aber Emily hatte sie ebenfalls beobachtet. Es konnte genausogut eines ihrer halbgelesenen Bücher wie eine Pistole gewesen sein.
    Giggs hielt sich den verletzten Arm. Niemeyer balancierte auf der Reling am Bug. Und dann sprang der Gefangene ins Meer, ohne die Umarmung seiner gefesselten Hände um das Mädchen zu lockern.
     
    Emily muss alles, was geschah, bei völligem Bewusstsein miterlebt haben. Doch hinterher sagte sie nichts. Während allem Hin und Her nach dem Sprung in den Tod sagte Emily kein Wort. In den vorausgegangenen Wochen hatte ich oft gesehen, wie sie sich zu Asuntha neigte, um mit ihr zu sprechen oder ihr zuzuhören, und ich hatte meine Cousine immer wieder mit Sunil zusammen gesehen. Doch worin Emilys Rolle in diesem Geschehen auch bestanden haben mag, sie blieb die meiste Zeit unseres Lebens zwischen uns unerwähnt. Hatte ich unterhalb der Oberfläche dessen, was in jener Nacht passierte, etwas anderes wahrgenommen? War alles nur das Produkt der blühenden Phantasie eines Elfjährigen? Ich drehte mich um, suchte mit dem Blick nach Cassius und ging zu ihm, doch meinen Freund hatte das Geschehen offenbar sprachlos gemacht, und er wich vor mir zurück, als wäre ich ein Fremder.
    Diese Reise sei als harmlose Geschichte innerhalb des engen Parameters meiner Jugend angelegt gewesen, hatte ich einmal zu jemandem gesagt. Mit drei oder vier Kindern im Mittelpunkt auf einer Fahrt, deren vorgegebener Verlauf und eindeutiges Ziel auf nichts hinwiesen, was man fürchten oder entwirren musste. Jahrelang hatte ich kaum mehr daran gedacht.

Der Schrottplatz
    ICH GING UM VIERTEL VOR ZWEI UHR in Horseshoe Bay an Bord der Queen of Capilano , und als die Fähre Vancouver verließ, stieg ich die Treppe zum Sonnendeck hinauf. Ich hatte einen Parka an und ließ mich vom Wind beuteln, während das Schiff rumpelnd in eine blaue Landschaft aus Buchten und Bergen hineinfuhr. Es war eine kleine Fähre, auf der an verschiedenen Stellen Verbotstafeln angebracht waren, denen man entnehmen

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