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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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wir gesehen hatten, denn er war immer der Gelassenste, derjenige, der wusste, was zu tun war. Wir erzählten ihm, was wir mitgehört hatten, wie Emily weggegangen und zurückgekommen war, die Szene mit Mr. Perara und den Anblick des Toten, dessen Hände den aufgeschlitzten Hals umfassten. Unser Freund saß schweigend da, ohne einen Ratschlag. Er war so fassungslos wie wir. Wir schwiegen alle drei, so wie nach dem Zwischenfall mit dem Hund und Hector de Silva.
    Dann sagte Ramadhin: »Du musst mit ihr sprechen.«
    Aber ich war schon bei Emily gewesen. Sie hatte sich kaum aufraffen können, zur Tür zu kommen und sie zu öffnen, und im nächsten Augenblick hatte sie sich hingesetzt und war wieder eingeschlafen, saß vor mir wie eine schlaffe Puppe. Ich beugte mich vor und schüttelte sie. Sie sagte, sie sei die ganze Nacht von sonderbaren Träumen geplagt worden; vielleicht sei das Abendessen ihr schlecht bekommen.
    »Wir haben alle das gleiche gegessen«, sagte ich. »Mir ist nicht schlecht geworden.«
    »Kannst du mir etwas holen? Wasser …«
    Ich brachte ihr Wasser, aber sie hielt das Glas nur auf dem Schoß.
    »Du warst bei den Rettungsbooten, weißt du noch?«
    »Wann? Michael, lass mich schlafen.«
    Ich schüttelte sie wieder.
    »Weißt du nicht mehr, dass du letzte Nacht an Deck warst?«
    »Ich war doch hier, oder?«
    »Und du hast dich mit jemandem getroffen.«
    Sie bewegte sich auf ihrem Stuhl.
    »Ich glaube, du hast etwas getan. Weißt du es nicht mehr? Kannst du dich an Mr. Perera erinnern?«
    Sie richtete sich mühsam auf und sah mich an.
    »Wissen wir, wer er ist?«
     
    Cassius und ich gingen zu der Stelle, an der wir Mr. Pereras Leichnam gesehen hatten. Wir knieten uns hin und suchten den Boden nach Blutspuren ab, aber das Deck war sauber.

 
     
     
    ICH GING IN MEINE KABINE ZURÜCK und blieb dort für den Rest des Tages. Wir drei hatten beschlossen, uns niemandem anzuvertrauen. Mr. Hastie hatte in einem Wandschrank einen kleinen Obstvorrat für seine Kartenabende, und den aß ich auf, um nicht am Katzentisch zum Mittagessen erscheinen zu müssen.
    Ich war mir nicht sicher, ob das, was ich gesehen hatte, das war, was ich gesehen zu haben glaubte. Es gab niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Hätte ich mich Mr. Daniels oder Miss Lasqueti anvertraut, hätte das geheißen, zu verraten, was ich über Emilys Tat wusste. Mein Onkel war Richter, dachte ich. Vielleicht konnte er Emily retten. Oder wir konnten sie retten, wenn wir den Mund hielten. Am Nachmittag ging ich für eine Weile allein auf Deck C; dann kam ich zurück und sah auf meiner durchgepausten Karte nach, wie weit wir noch fahren mussten. Irgendwann bin ich wohl eingeschlafen.
    Ich hörte die Glocke, die zum Abendessen rief, und etwas später hörte ich Ramadhins codiertes Klopfen an der Tür und öffnete sie. Er winkte mich zu sich, und ich folgte ihm und Cassius. Das Essen war diesmal an Deck auf Tapeziertischen angerichtet, und wir aßen in einer Ecke, wo wir ungestört waren. Als wir gingen, nahm Cassius ein bis zum Rand gefülltes Glas mit. »Ich glaube, das ist Cognac«, sagte er. Oben auf dem Promenadendeck fanden wir ein ruhiges Plätzchen, und dort blieben wir mehrere Regengüsse hindurch und tranken den Inhalt von Cassius’ Glas, als wollten wir uns damit vergiften.
    Der Horizont war diesig, verhangen, und wir konnten nichts erkennen. Dann hörte der Regen auf. Das bedeutete, dass der nächtliche Spaziergang des Gefangenen möglicherweise nicht gestrichen wurde. Sein Erscheinen würde für uns drei ein wenig Rückkehr zur Normalität bedeuten. Und deshalb harrten wir auf dem menschenleeren Deck aus, während es dunkel wurde.
    Die Wache machte ihre Runde, blieb an der Reling stehen, sah zu den Wogen neben dem Schiff hinunter und ging dann weiter. Irgendwann wurde der Gefangene hergebracht.
    An dieser Stelle des Decks gab es nur ein oder zwei Lampen, und wir waren nicht zu sehen. Er stand mit seinen zwei Wärtern da. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt, und als er sich vorwärts bewegte, rasselte die Kette an seinen Füßen geräuschvoll hinter ihm über das Deck. Dann blieb er reglos stehen, während die Wärter die schwere Kette an seinem Hals anbrachten, die er an Deck tragen musste. Das taten sie im Dunkeln, verließen sich auf Tastsinn und Übung. Wir hörten ihn ganz leise sagen: »Macht sie auf« , und wir mussten genau hinsehen, um zu erkennen, dass er einem der Wärter den Hals verdreht hielt. Der Gefangene

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