Keeva McCullen 7 - Bluthunger (German Edition)
Im Zug nach London
Liekk-Baoth, mächtiger Gestaltwandler und rechte Hand des Londoner Erzdämons, saß in Menschengestalt in einem Zugabteil und blickte müde aus dem Fenster auf die vorbeihuschende Landschaft. Der Ausblick war genauso trübe wie seine Stimmung.
Wenigstens schützte ihn der muffige Geruch seiner Kleidung vor der Gesellschaft anderer Menschen. Bisher hatte es auf dieser Reise jedenfalls noch niemand allzu lange in seiner Nähe ausgehalten. Die Wenigen, die in sein Abteil getreten waren und nicht sogleich wieder auf dem Absatz kehrt gemacht hatten, waren spätestens nach einer Viertelstunde aufgestanden und hatten sich woanders einen Platz gesucht - manche mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede auf den Lippen, die anderen stumm und mit misstrauischem Blick.
Selbst der Schaffner war seit der Fahrkartenkontrolle zu Beginn der Fahrt nicht mehr hereingekommen. Nach jedem Bahnhofsstopp hatte der uniformierte Mann einen kurzen Blick in das Abteil geworfen, hatte mit offensichtlicher Erleichterung festgestellt, dass sich kein neuer Passagier dazugesellt hatte und war mit schnellen Schritten weiter geeilt.
Dem schlecht gelaunten Dämon war das nur recht.
Er konnte die Menschen nicht ausstehen und hatte nur noch eines im Sinn: so schnell wie nur möglich nach London zurückzugelangen und dort durch das versteckte Portal in die Höllenwelt zu wechseln, wo er seinem Meister, dem Erzdämon, endlich den magischen Stein in die Hand drücken konnte, den er gerade in seiner Jackentasche trug. Damit wäre dann auch der zweite Teil seines Auftrages, der ihn in die unangenehme Welt der Menschen geführt hatte, abgeschlossen.
Leider hatte er dafür deutlich länger gebraucht als geplant - weshalb er nun von der Sorge geplagt wurde, sein schärfster Konkurrent um die Gunst des Erzdämons könnte seine lange Abwesenheit dazu ausgenutzt haben, ihm seine Stellung innerhalb der Höllenhierarchie streitig zu machen …
Während der Dämon aus dem Fenster starrte und diesen Gedanken nachhing, erschien unerwartet ein gänzlich anderes Bild vor seinem geistigen Auge, begleitet von einem Schwall negativer Gefühle: Verschwommene Gleise, unüberwindbare Verzweiflung und der endgültige Wille, diesem traurigen Leben ein Ende zu bereiten ...
Liekk-Baoth grunzte unwillig vor sich hin. Was er spürte, waren die Gedanken irgendeines Menschen in nicht allzu großer Entfernung. Eines weiblichen Menschen, denn Männer waren gegen die Kontrolle und das Lesen ihrer Gedanken deutlich widerstandsfähiger als Frauen. Er wollte diese ungebetene Einmischung in seine Grübeleien gerade beiseite schieben, als ihm klar wurde, was die aufgefangenen Gefühle zu bedeuten hatten: diese Frau war kurz davor, Selbstmord zu begehen, indem sie sich auf die Schienen stürzte!
Alarmiert setzte er sich aufrecht hin und beugte sich näher zum Fenster. Der Zug hatte - ohne dass er es bisher bewusst wahrgenommen hätte - seine Fahrgeschwindigkeit deutlich verringert und war gerade im Begriff, in einen kleinen Bahnhof einzufahren. Die Person, deren Empfindungen seinen Geist heimsuchten, konnte sich also nur dort vorne auf dem Bahnsteig aufhalten und jeden Augenblick zum Sprung ansetzen. Das musste er mit aller Macht verhindern!
Nicht, dass es ihm dabei um das Leben dieser Frau gegangen wäre - deren jämmerliche Existenz war ihm völlig gleichgültig -, aber die Verzögerung, die so ein Unglücksfall mit sich bringen würde, konnte er jetzt auf keinen Fall gebrauchen. Er war auch so schon viel zu spät dran für seinen Geschmack.
So intensiv wie möglich konzentrierte er sich daher auf die Quelle dieser Verzweiflung. Er hatte keinerlei Interesse daran, allzu tief in die Psyche der Frau einzudringen, stattdessen beschränkte er sich auf eine äußerst oberflächliche Kontrolle ihres Geistes. Keine Sekunde zu früh, wie er bemerkte, als er unmittelbar darauf durch die Augen der Frau sehen konnte. Sie stand tatsächlich sprungbereit neben den Schienen und wartete auf den gerade einfahrenden Zug -
seinem
Zug ...
Er zwang die Frau, sich umzudrehen, ein paar Schritte zurückzugehen und sich auf eine der Holzbänke zu setzen, die sich in der Mitte des Bahnsteiges befanden. Er spürte die Verwirrung, die sich ihrer bemächtigte, doch für ihn war lediglich das Bild des Zuges wichtig, der vor ihren Augen langsam in den Bahnhof einfuhr und schließlich mit lautem Zischen zum Stehen kam.
Erleichtert lehnte Liekk-Baoth sich zurück und löste den Griff
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