Als schliefe sie
Die erste Nacht
Die Lider öffneten sich einen Spalt breit. Zwischen den Wimperreihen kamen zwei müde Augen zum Vorschein. Milia ließ sich zurück in den Schlaf fallen, setzte ihren Traum fort. Eine kleine weiße Kerze. Ihr schwaches Licht flackert im Nebel. Die Kerze in der Hand, geht Mansûr dem Taxi voran. Der Wind peitscht seinen langen Mantel. Das Gesicht ist nicht zu erkennen. Unwillkürlich griff Milia nach dem Glas Wasser, das sie vor dem Schlafengehen gewöhnlich auf den Nachttisch stellte. Doch da war kein Wasser. Sie hatte schrecklichen Durst, spürte eine rissige Trockenheit an Zunge und Gaumen. Der linke Oberarm, eingeklemmt zwischen Kopf und Kissen, war eingeschlafen. Wie von Ameisen befallen, kribbelte er bis hinauf in den Hals. Sie befreite ihren Arm, wälzte sich auf den Rücken, griff instinktiv nach dem Glas Wasser. Doch da war kein Tisch. Erschrocken schoss sie hoch, saß kurz aufrecht und ließ sich langsam zurücksinken, bis sie mit dem Nacken am Kopfteil des Bettes anstieß. Das Bett war aus Holz. Aber wo war die Wand? Die weiße Wand, an die sie sonst den Kopf lehnte, sodass ihr die abplatzende Farbe ins Haar bröselte? Milia kreuzte die Arme vor der Brust, merkte, dass ihr Oberkörper nackt war. Angst befiel sie, Kälte kroch ihr in die Beine. Um das Zittern zu bändigen, legte sie die rechte Hand auf die Schenkel. Die Schenkel waren ebenfalls nackt. Sie ließ die Hand aufwärts wandern, ertastete am Schoß kaltes, geronnenes Blut.
»Die Ehe«, murmelte sie in sich hinein und schloss die Augen.
Wie der schwarze Schatten eines Schattens schwebt Milia die Szene von Dahr al-Baidar vor. Im schwarzen Hochzeitsanzug, darüber einen langen olivgrünen Mantel, in der Hand eine kleine Kerze, geht Mansûr Haurâni dem Taxi voran. Sie, im weißen Brautkleid, sitzt auf der Rückbank, umhüllt von Dunkelheit, in ihrem Blickfeld die glänzende weiß-schuppige Glatze des Chauffeurs. Sobald sie Nazareth in Galiläa erreicht hätten, würde sie Mansûr etwas offenbaren. Ihm offenbaren, dass sich ein gewisses Bild von ihm in ihr Gedächtnis gegraben habe. Das Bild von ihm als einem schwarzen, unsicher durch eisige Kälte wankenden Gespenst, gefolgt von einem Auto, dessen Scheinwerfer den dichten Gebirgsnebel von Dahr al-Baidar nicht zu durchdringen vermochten.
Am Samstag, dem 12. Januar 1946 um 15 Uhr gaben sich Mansûr und Milia in der Erzengel-Michael-Kirche mit dem Segen von Pater Bûlus Sâba das Jawort. Im Anschluss an die Zeremonie trat das Brautpaar ins Freie, nahm, umringt von Milias Familie, vor der Kirche die Glückwünsche entgegen. Milia konnte vor Tränen nur schwer die Gratulanten erkennen. Die Tränen liefen nicht, sondern sprangen ihr wie zum Flug ansetzend aus den Augen und landeten kurz darauf auf den weißen Wangen. Mansûr lächelte breit, sodass zwischen seinen schmalen Lippen die kleinen weißen Zähne zum Vorschein kamen. Darauf, dass seine Braut weinte, machte ihn erst die Äußerung ihrer Mutter aufmerksam.
»Nicht doch, Milia!«, sagte sie. »Schließlich ist das eine Hochzeit und keine Beerdigung!«
Als alle Gäste, jeder mit einer Silberdose voll Süßigkeiten, gegangen waren und auf dem Kirchplatz nur noch die engere Verwandtschaft stand, drückte die Mutter ihre Tochter fest an sich. Von einem Weinkrampf geschüttelt, lagen sich die beiden in den Armen.
»Ach Kind, du brichst mir noch das Herz«, schluchzte die Mutter und schob Milia von sich. »Das Weinen überlass uns. Du musst dich freuen!«
Tränen würgend lächelte Milia. Die Mutter gewann die Beherrschung zurück und beglückwünschte das Brautpaar, um das sich die Brüder der Braut drängten, mit einem Jubeltriller. Milia schaute Mûsa an, bemerkte, dass sich seine Pupillen verengten, und witterte Gefahr. Unwillkürlich hob sie die Hand, wie um Mansûrs Gesicht vor den Blicken ihres jüngsten Bruders zu schützen.
Milia öffnete die Augen. Sie sah nichts. Nur Dunkelheit. Jenen rätselhaften Traum wollte sie unbedingt fortsetzen. Denn trotz aller Angst, die sie spürte, verlieh er ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Endlich waren die nächtlichen Visionen wieder da. Endlich träumte sie wieder. Milia sah sich selbst im Traum. Ein kleines Mädchen, sieben Jahre alt, dunkelhäutig, mit kurzen schwarzen Locken. Um sie herum Menschen. Rastlos rennt sie zwischen ihnen umher. Sie sieht alles. Und wenn sie morgens, aus dem Schlaf erwacht, von ihren nächtlichen Erlebnissen erzählte, erntete sie von allen erstaunt
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