Kein Alibi: Roman (German Edition)
Last der Verantwortung. Das Gefühl von Freiheit wirkte berauschend.
Der Jahrmarktsplatz war mit einem Plastikseil abgeteilt, an dem bunte Wimpel reglos in der Hitze hingen. In der lastenden Schwüle duftete es verführerisch nach sämtlichen ungesunden Leckereien. Aus der Entfernung hörte sich die Musik nur halb so schlimm an. Sofort war Hammond froh, dass er angehalten hatte. Das brauchte er – diese Isolation.
Trotz der vielen Menschen, die sich durch das Drehkreuz zwängten, war er in einem höchst realen Sinne isoliert. Mit einem Mal schien es die bessere Wahl zu sein, in einer großen lärmenden Menschenmenge unterzugehen, als einen einsamen Abend in seinem Blockhaus zu verbringen, so wie er es ursprünglich geplant hatte.
Die Band hatte zwei Songs gespielt, seit die Frau mit den rotbraunen Haaren auf der ihm entgegengesetzten Pavillonseite Platz genommen hatte. Hammond hatte sie unaufhörlich beobachtet und seine Vermutungen angestellt. Höchstwahrscheinlich erwartete sie jemanden, vermutlich einen Ehemann mit einer Reihe Kinder. Sie wirkte ein wenig jünger als er, vielleicht Anfang dreißig. Genau das richtige Alter für ein Mitglied des Festausschusses, die Mutter eines Jungpfadfinders, eine Vertreterin des Elternbeirats. Eine jener Hausfrauen, deren einzige Sorge der
Auffrischung von Diphtherie- und Tetanusimpfungen, Zahnspangen und dem strahlendsten Weiß und den buntesten Farben ihrer Wäsche galten. Obwohl seine gesammelten Kenntnisse dieses Frauentyps aus der Fernsehwerbung stammten, schien sie dem Durchschnittsbild zu entsprechen.
Mit einer Ausnahme: Sie war ein bisschen zu… zu… nervös. Sie wirkte nicht wie eine Mutter mit kleinen Kindern, die ein paar Minuten Atempause genoss, während Daddy mit den Kids eine Runde Karussell fuhr. Sie hatte nicht die kühl-kompetente Ausstrahlung der Frauen aus seinem Bekanntenkreis, der Mitglieder in Frauenverbänden und anderen wohltätigen Vereinen, die sich zum Lunch trafen und für ihre Kinder Geburtstagspartys und Dinner für die Geschäftsfreunde ihrer Männer ausrichteten, die zwischen Aerobicstunden und Bibelkreisen ein- bis zweimal pro Woche in ihren schicken Clubs Golf oder Tennis spielten.
Andererseits hatte sie auch nicht den weichen reifen Körper einer Frau, die zwei oder drei Nachkommen geboren hatte. Ihre Figur war straff und sportlich. Sie hatte schöne – nein, tolle – Beine, straff, schlank und sonnengebräunt, die durch einen kurzen Rock und hochhackige Sandalen noch betont wurden. Ihr ärmelloses Top hatte einen spitzen Ausschnitt wie ein Pullunder, darüber trug sie eine passende Strickjacke lässig um den Hals gebunden, die sie inzwischen ausgezogen hatte. Ihre Kleidung strahlte einen subtilen Chic aus, der das meiste ausstach, was die Shorts-und-Turnschuh-Truppe hier vor Ort trug.
In ihre Handtasche, die auf dem Tisch lag, passten bestimmt nur Schlüsselbund, Taschentuch und vielleicht noch ein Lippenstift, sie hatte aber nie und nimmer das Fassungsvermögen jener Schulterbeutel junger Mütter voll gestopft mit Mineralwasserflaschen, feuchten Tüchern, Bio-Riegeln und anderen Dingen, mit denen man notfalls tagelang in der Wildnis überleben konnte.
Hammond hatte einen analytischen Verstand. Deduktives logisches Denken war seine Stärke. Deshalb kam er zu dem für ihn höchstwahrscheinlichen Schluss, dass diese Frau keine Mutter war.
Was nicht heißen sollte, dass sie nicht verheiratet oder sonst
wie gebunden sein konnte und nur darauf wartete, eine für sie wichtige männliche Person zu treffen, egal, um wen es sich dabei handelte oder wie ihre Beziehung aussah. Diese Frau widmete sich vielleicht ganz ihrer Karriere und brachte in der Geschäftswelt wichtige Dinge ins Rollen: als erfolgreiche Vertreterin, als Geschäftsfrau mit Köpfchen, als Börsen- oder Kreditmaklerin.
Während Hammond an seinem Bier nippte, das in der Hitze allmählich schal wurde, starrte er sie weiter interessiert an.
Bis er plötzlich bemerkte, wie er seinerseits angestarrt wurde.
Als sich ihre Blicke trafen, machte sein Herz einen Satz. Vielleicht weil er sich genierte, ertappt worden zu sein. Trotzdem schaute er nicht weg. Mehrere Sekunden hielten sie den Blickkontakt trotz der Tänzer aufrecht, die sich zwischen ihnen bewegten und immer wieder die Sicht versperrten.
Dann wandte sie sich abrupt ab, als ob sie sich schämte, gerade ihn in der Menge ausgesucht zu haben, und sich ärgerte, auf einen banalen Blickkontakt wie ein junges Mädchen
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