Kein Engel so rein
Königreichs.
Bosch fiel auf, dass kein Familienmitglied ein anderes ansah. Nachdem der Sarg in das Grab hinabgelassen worden war und der Prediger das letzte Kreuzzeichen gemacht hatte, drehte sich Sheila Delacroix um und ging den Hang hinunter zur Zufahrtsstraße. Sie hatte ihre Eltern kein einziges Mal angesehen.
Samuel Delacroix folgte ihr, und als seine Tochter sich umblickte und sah, dass er hinter ihr herkam, begann sie schneller zu gehen. Nach einer Weile ließ sie einfach den Regenschirm fallen und begann zu laufen. Sie schaffte es, ihr Auto zu erreichen und wegzufahren, bevor ihr Vater sie einholte.
Samuel Delacroix sah dem Auto seiner Tochter hinterher, bis es durch das Tor des riesigen Friedhofs verschwand. Dann ging er zurück und hob den weggeworfenen Regenschirm auf. Er nahm ihn zu seinem Auto mit und fuhr ebenfalls weg.
Bosch sah zum Grab zurück. Der Prediger war ebenfalls gegangen. Als Bosch sich umschaute, sah er den oberen Teil eines schwarzen Schirms hinter der Hügelkuppe verschwinden. Bosch wusste nicht, wohin der Mann ging, es sei denn, er musste auf der anderen Seite des Hügels ein weiteres Begräbnis abhalten.
Damit war am Grab nur noch Christine Waters übrig. Bosch beobachtete, wie sie ein stummes Gebet sprach und dann auf die verbliebenen beiden Autos an der Straße zuging. Er schlug einen Weg ein, der den ihren kreuzte. Als er sich ihr näherte, sah sie ihn gefasst an.
»Detective Bosch, Sie hier?«
»Wieso überrascht Sie das?«
»Sollen Polizisten nicht unbeteiligt bleiben, sich emotional auf nichts einlassen? Aber die Teilnahme an einem Begräbnis zeigt doch Anteilnahme, oder etwa nicht? Vor allem bei einem Begräbnis, bei dem es regnet.«
Er begann neben ihr herzugehen, und sie hielt ihren Schirm zur Hälfte über ihn.
»Warum haben Sie Anspruch auf die sterblichen Überreste erhoben?«, fragte er. »Warum haben Sie das getan?«
Er deutete auf das Grab auf dem Hügel zurück.
»Weil ich dachte, dass es sonst niemand täte.«
Sie erreichten die Straße. Boschs Wagen stand vor ihrem.
»Wiedersehen, Detective«, sagte sie, als sie sich von ihm entfernte und zwischen den Autos hindurch zur Fahrertür ihres Wagens ging.
»Ich habe etwas für Sie.«
Sie öffnete die Autotür und blickte zu ihm zurück.
»Was?«
Bosch öffnete die Tür seines Autos und entriegelte den Kofferraum. Dann ging er nach hinten und blieb zwischen den zwei Autos stehen. Sie machte den Regenschirm zu, warf ihn in ihr Auto und kam dann auf ihn zu.
»Mir hat mal jemand gesagt, das Leben ist das Streben nach einer einzige Sache. Vergebung. Die Suche nach Vergebung.«
»Für was?«
»Für alles. Egal was. Wir wollen alle, dass man uns vergibt.«
Er hob den Kofferraumdeckel und nahm eine Schachtel heraus. Er hielt sie ihr hin.
»Kümmern Sie sich um diese Kinder.«
Sie nahm die Schachtel nicht. Stattdessen nahm sie den Deckel ab und sah in die Schachtel. Sie enthielt Packen von Kuverts, die mit Gummis zusammengehalten waren. Sie enthielt lose Fotos. Obenauf lag das Foto des Jungen aus dem Kosovo, der diesen 1000-Meter-Blick hatte. Sie griff in die Schachtel.
»Woher sind die?«, fragte sie, als sie einen Umschlag von einer der Hilfsorganisationen hochhob.
»Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Irgendjemand muss für sie sorgen.«
Sie nickte und setzte den Deckel vorsichtig wieder auf die Schachtel zurück. Dann nahm sie Bosch die Schachtel aus den Händen und trug sie zu ihrem Auto. Sie legte sie auf den Rücksitz, dann ging sie zur offenen Vordertür. Sie sah Bosch an, bevor sie einstieg. Es schien, als wollte sie etwas sagen, tat es dann aber doch nicht. Sie stieg ein und fuhr weg. Bosch schloss den Kofferraum seines Autos und sah ihr nach.
54
Die Anordnung des Polizeichefs war wieder einmal missachtet worden. Bosch machte das Licht im Bereitschaftsraum an und ging zu seinem Platz am Morddezernattisch. Er stellte zwei leere Schachteln darauf.
Es war später Sonntagabend, fast Mitternacht. Er hatte beschlossen, seinen Schreibtisch auszuräumen, wenn niemand da war, der ihm dabei zusah. Er hatte noch einen Tag bei der Hollywood Division, aber er wollte ihn nicht damit zubringen, seine Sachen in Schachteln zu packen und mit allen möglichen Leuten unaufrichtige Abschiedswünsche auszutauschen. Sein Plan sah so aus, dass er bei Dienstbeginn einen leeren Schreibtisch hätte und bei Dienstschluss ein dreistündiges Mittagessen bei Musso & Frank’s. Er würde sich bei ein paar Leuten, an denen
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