Kein Leben ohne Hund
wie von einem Schutzengel.
Ein Hund schenkt dir Geborgenheit.
Ein Jahr lebte ich mit einem Geist an der gefühlten Leine.
Ruby war tot – aber deshalb war sie trotzdem da.
Ich konnte den Wind streicheln und Ruby spüren.
Alles, was mich an sie erinnert, war wie ein augenzwinkerndes Bellen: Es war schön mit dir.
Wenn meine Schuhe durch die Blätter des Herbstlaubs stocherten, sah ich ihre schnüffelnde Schnauze.
Wenn die ersten Schneeflocken tanzten, sah ich ihre Pfotenspuren im zärtlichen Weiß.
Wenn ich einen anderen Hund sah, schaute ich weg.
»Du bist nicht Ruby.«
Ein Jahr ohne Hund schenkt Freiheit:
Die Leine des Lebens ist durchschnitten.
Nichts hält dich.
Nichts bindet dich.
Nichts braucht dich.
Nichts wartet auf dich.
Aber nichts ist nicht das Leben.
Am 6. Dezember 2011 wäre unser Hund 18 Jahre geworden. Es war der Nikolaustag. Es hatte kurz geschneit, aber dann schmolz alles.
Wie die Erinnerung.
Aber wenn ich die Augen schließe, erblühen Bilder von ihr: Es war einmal … ein Hund, dein Hund.
Es ist Rubys Blick, der mir fehlt.
Es sind diese treuen Augen, die mich suchen wie eine Taschenlampe.
Wenn unsere Augen sich trafen, stand die Welt still.
Ihre Augen wurden zur Reflexion meiner selbst: Was tust du? Lebst du dein Leben oder das der anderen?
Folgst du falschen Wegen und falschen Zielen?
Bist du glücklich, wenn du aufwachst und deinen Tag vor dir siehst? Ist das dein Leben?
Du hast nur das eine.
Ein Hund lebt seine Natur, seine Instinkte, sein Ich.
Der Mensch irrt herum. Er lebt in Sorgen und Plänen und Wünschen und Sehnsüchten und im Internet.
Ein Hund lebt nur jetzt, sofort, vielleicht ein bisschen später.
Es ist Rubys begleitender Schatten, der mir fehlt.
Wie wir uns in den großen Axel-Springer-Verlag schmuggelten durch die Tiefgarage.
Wie sie neben mir auf dem weißen Sitzleder des Range Rovers kuschelte wie ein schwarzer Zobel.
Wie wir durch den Schnee stapften zu dem verschneiten Reetdachhaus mit dem rauchenden Kamin und den flackernden Kerzen in den Fenstern und dem Geruch nach Wärme.
Wie wir am Meer entlangknirschten an den ewigen Wellen, der schäumenden Brandung, dem unendlichen Horizont, im salzig duftenden Wind.
Wie wir im »Weißen Ross« bei Wirt Sigi auf der Eckbank saßen – weit weg von den wichtigen Städten und uns so nah.
Wir waren ein bisschen wie Don Quijote und Sancho Pansa, der Lange und der Kleine, der Träumer und der Realist, der Fliehende und der Bleibende. Unser Paradies war die Küste der Ostsee, das Land und die Weite und Stille.
Unser Haus in der Stadt wurde zur Altershöhle für unseren Hund.
Ein Haus aus der Jahrhundertwende. Weiß, rot, und schwarzgrünes Kupferdach. Es leuchtet in der Dämmerung wie das 24. Türchen des Adventskalenders.
100 Stufen schlingen sich durch seinen Bauch. Es knarrt, hat eine lichtdurchflutete Seele und die hohen Fenster lächeln.
Rubys Reich war die Küche. Ihr Körbchen kuschelte unter dem Küchenschreibtisch von Frauchen.
Ruby sah alles, hörte alles, roch alles, fühlte alles.
Die glatte, gewundene Holztreppe wurde für sie zur unbezwingbaren Zugspitze.
Oft trug ich sie im Arm hoch in ihr Zweitkörbchen im Schlafzimmer vor dem Kamin unter der Dachterrasse.
Aber nachts wurde sie dann zum Geist.
Sie schlafwandelte.
Sie suchte.
Sie stolperte.
Sie stürzte.
Sie fiel.
Sie litt.
Sie seufzte.
Ich trug sie zurück in die Küche, mit der Tür zur Holzterrasse und der kleinen weißen Treppe zum Garten.
Unser schmaler Garten wurde Rubys Park.
Unser hohes Haus wurde Rubys Burg.
Aber sie ging nur noch selten über die Zugbrücke hinaus ins Leben.
Sie zog sich zurück wie eine Schnecke.
Ruby glitt hinüber die die Dämmerung.
Ihre Sonne senkte sich.
Jeder Tag war ein kleines Wunder.
Weihnachten 2011.
Heiligabend. Hamburg. Kein Schnee. Keine Ruby. Triste Romantik.
Unser Haus glüht innerlich. 50 Kerzen flackern. Der Kamin rumort, knistert, sprengt duftend Tannenzweige, qualmt, frisst frische Birkenscheite.
Der Berg der Geschenke wurde zum Hügel. Der Pfarrer unserer Kirche ist krank: Krippenspiel ohne Belehrungen. Omi und Opi kommen langsamer die Treppe hoch.
Aber Lichterketten glitzern wie Diamanten an unserer Tür.
Wir feiern unsere erste Weihnacht ohne Hund.
Unsere Kinder, mittlerweile 15, zwölf und neun Jahre alt, kennen den Christbaum nur mit der schnüffelnden Ruby darunter. Weihnachten war für sie immer eine Duftorgie. Die Bienenwachskerzen im Baum. Der ewige
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