Das Ultimatum
1
Das alte Holzhaus stand von Bäumen umgeben in der Dunkelheit. Die Rollläden waren heruntergelassen, und ein Hund lag regungslos auf der Veranda. Aus dem Schornstein stiegen dünne Rauchschwaden auf und zogen nach Westen über die Landschaft von Maryland hinweg in Richtung Washington. Drinnen kauerte ein Mann vor dem Kamin und warf stapelweise Papier ins Feuer.
Die Papiere waren das Produkt von monatelanger mühsamer Arbeit. Jedes einzelne Blatt enthielt Notizen von Überwachungen, eingehende Personenbeschreibungen und detaillierte Aufzeichnungen über verschiedene Gegenden von Washington. Er wusste, wann die Polizeistreifen unterwegs waren, wann die Zeitungen zugestellt wurden, wer wann joggen ging und vor allem, wo seine Zielpersonen schliefen und wann sie aufstanden.
Er und seine Männer hatten sie monatelang geduldig überwacht, um herauszufinden, zu welchen Zeiten sie am verwundbarsten waren. Er hielt seine kräftigen Hände über das Feuer und ballte sie zu Fäusten. Im Zuge seiner Arbeit hatte er einige der entlegensten Plätze der Erde bereist, um Leute zu töten, die als Bedrohung für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika angesehen wurden.
Er wusste längst nicht mehr, wie viele Menschen er bereits im Dienst an seinem Land getötet hatte. Es war nicht so, dass er die Zahl verdrängt hätte – es interessierte ihn ganz einfach nicht. Wie viele es auch sein mochten – es war ihm um keinen von ihnen leid. Sie waren ausnahmslos bösartige Psychopathen, die unschuldige Zivilisten getötet hatten.
Der Mann, der da allein am Kamin saß, war der Mörder von Mördern, ein Mann, der von amerikanischen Behörden für das Töten ausgebildet und bezahlt wurde. Sein kurz geschnittenes blondes Haar leuchtete im Schein der Flammen, während er nachdenklich ins Feuer starrte, bis es vor seinen Augen zu verschwimmen begann. Morgen würde er zum ersten Mal auf amerikanischem Boden töten. Die genauen Zeiten, Orte und Ziele standen bereits fest. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde die politische Entwicklung in den USA für immer verändert werden.
Die Sonne ging über Washington D.C. auf, und ein langer arbeitsreicher Tag konnte beginnen. Das politische Geschehen in der Hauptstadt strebte einem Höhepunkt zu: In vierundzwanzig Stunden würde im Repräsentantenhaus über den Haushalt abgestimmt werden. Kongressabgeordnete, Senatoren, Bürokraten und Lobbyisten unternahmen noch schnell einen letzten Versuch, bestimmte Punkte des Jahresbudgets abzuändern oder zu Fall zu bringen. Es wurde ein knappes Ergebnis erwartet, sodass die Verantwortlichen in beiden Parteien einigen Druck auf ihre Mitglieder ausübten, sich bei der Abstimmung an die Parteilinie zu halten.
Niemand übte größeren Druck aus als Stu Garret, der Stabschef des Präsidenten. Es war kurz vor neun Uhr vormittags, und Garret platzte beinahe vor Ungeduld. Er stand im Blue Room des Weißen Hauses und sah zähneknirschend zu, wie der Präsident einer Schar Vorschulkindern »Humpty-Dumpty« vorlas. Er hatte dem Präsidenten versichert, dass der Fototermin mit den Kindern nicht in Frage kam, doch Ann Moncur, die Pressesprecherin des Weißen Hauses, hatte den Präsidenten dazu überredet, den Termin doch wahrzunehmen. Es kam nicht oft vor, dass Garret in einer solchen Meinungsverschiedenheit den Kürzeren zog, doch Ann Moncur hatte den Präsidenten mit dem Argument überzeugt, dass ein solcher Fototermin angesichts der harten Auseinandersetzung um das Budget in der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln würde, dass er über dem schmutzigen politischen Hickhack stehe.
Garret hatte in den vergangenen Wochen rund um die Uhr gearbeitet, um die nötigen Stimmen für den Haushaltsbeschluss zusammenzubekommen. Wenn das Budget nicht zustande kam, würde das ihren Ambitionen auf die Wiederwahl einen empfindlichen Dämpfer versetzen. Das Ergebnis würde bestimmt knapp ausfallen, doch Garret hatte vor, bis zur Abstimmung noch einiges zu unternehmen, um das gewünschte Ergebnis sicherzustellen. Dazu war es jedoch notwendig, dass der Präsident in seinem Büro saß und einige wichtige Anrufe tätigte, anstatt hier im Blue Room zu sitzen und kleinen Kindern Geschichten vorzulesen.
Wie alles im Weißen Haus hatte auch dieser Termin verspätet begonnen und ging nun bereits um einiges über die vorgesehene halbe Stunde hinaus. Garret blickte zum zehnten Mal in fünf Minuten auf die Uhr und beschloss, dass es jetzt wirklich genug war.
Weitere Kostenlose Bücher