Kein Lebenszeichen
Ringfahndung.«
»Internationale Ringfahndung«, sagte Squares schon fast angewidert.
»Glaubst du etwa, jeder Bulle auf der Welt denkt beim Aufwachen als Erstes an deinen Bruder?«
Da war was dran – insbesondere, seit mir klar geworden war, dass meine Mutter ihn womöglich finanziell unterstützt hatte. »Er hätte niemals jemanden umgebracht.«
»Blödsinn«, sagte Squares.
»Du kanntest ihn doch gar nicht.«
»Wir sind Freunde, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Und glaubst du, dass ich früher mal Kreuze verbrannt und Heil Hitler gebrüllt habe?«
»Das ist was anderes.«
»Nein, ist es nicht.« Wir stiegen aus dem Bus. »Du hast mich doch mal gefragt, warum ich die Tätowierung nicht ganz hab wegmachen lassen.«
Ich nickte. »Und du hast geantwortet, ich soll mich verpissen.«
»Genau. Tatsache ist aber, ich hätt’s weglasern oder unter einer kunstvolleren Tätowierung verschwinden lassen können. Aber ich hab’s behalten, weil’s mich an was erinnert.«
»Woran? Die Vergangenheit?«
Squares zeigte seine gelben Zähne. »An ein Potenzial«, sagte er.
»Das begreif ich nicht.«
»Weil du zu blöd bist.«
»Mein Bruder hätte nie eine unschuldige Frau vergewaltigt und umgebracht.«
»Manche Yogaschulen unterrichten auch Mantras«, sagte Squares. »Aber nur weil man irgendwas ständig wiederholt, ist es nicht die Wahrheit.«
»Du bist verdammt tiefsinnig heute«, sagte ich.
»Und du benimmst dich wie ein Arschloch.« Er drückte seine
Zigarette aus. »Verrätst du mir, wieso du deine Ansicht geändert hast?«
Wir standen vor dem Eingang.
»Bei mir im Büro«, sagte ich.
Wir schwiegen, als wir das Obdachlosenasyl betraten. Die Leute erwarten immer einen Saustall, aber bei uns sieht es ganz anders aus. Dahinter steckt die Idee, dass dies ein Ort sein soll, wo man die eigenen Kinder gut aufgehoben weiß, falls sie einmal in Schwierigkeiten geraten sollten. Die Spender sind von dieser Erklärung immer erst ziemlich verblüfft – wie bei den meisten Wohltätigkeitsorganisationen haben sie auch bei uns den Eindruck, dass wir aus einer anderen Welt kommen –, aber manchen wird dabei klar, wo sie leben.
Squares und ich schwiegen, denn wenn wir im Asyl sind, konzentrieren wir uns voll und ganz auf die Jugendlichen. Das haben sie verdient. Einmal in ihrem traurigen Leben sind sie das Wichtigste. Jederzeit. Wir begrüßen jeden wie einen – und bitte entschuldigen Sie die Formulierung – lange verlorenen Bruder. Wir hören ihnen zu. Wir sind nie in Eile. Wir schütteln ihre Hände und umarmen sie. Wir sehen ihnen in die Augen. Wir sehen ihnen nie über die Schulter. Wir bleiben stehen und sehen sie an und sind ganz für sie da. Wenn man versucht, so etwas vorzutäuschen, merken diese Kids das sofort. Sie haben ein fantastisches Gespür dafür, wann ihnen jemand Schwachsinn erzählt. Wir schenken ihnen unsere absolute und bedingungslose Liebe. Das machen wir Tag für Tag. Wenn wir das nicht können, gehen wir einfach nach Hause. Das heißt nicht, dass wir immer Erfolg haben. Oder auch nur meistens. Wir verlieren viel mehr Jugendliche, als wir retten können. Die Straße holt sie sich zurück. Aber solange sie hier bei uns im Haus sind, soll es ihnen gut gehen. Wenn sie hier sind, werden sie geliebt.
Als wir in mein Büro kamen, warteten dort zwei Besucher auf
uns – eine Frau und ein Mann. Squares blieb wie angewurzelt stehen. Er hob die Nase und schnüffelte wie ein Spürhund.
»Cops«, sagte er zu mir.
Die Frau lächelte und trat einen Schritt vor. Der Mann, der lässig an der Wand lehnte, blieb, wo er war. »Will Klein?«
»Ja«, sagte ich.
Mit einer kurzen Handbewegung präsentierte sie ihren Dienstausweis. Der Mann tat es ihr nach. »Mein Name ist Claudia Fisher. Das ist Darryl Wilcox. Wir sind Agenten des Federal Bureau of Investigation.«
»Das FBI«, sagte Squares zu mir und hob beide Daumen, als wollte er zeigen, wie beeindruckt er war, dass mir eine solche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Er betrachtete erst den Ausweis, dann Claudia Fisher. »Hey, wieso haben Sie sich die Haare abgeschnitten?«
Claudia Fisher klappte ihren Ausweis wieder zu. Mit hochgezogener Augenbraue musterte sie Squares. »Und Sie sind?«
»Leicht erregbar«, entgegnete er.
Sie runzelte die Stirn und wandte sich wieder an mich. »Wir würden gern ein paar Worte mit Ihnen reden.« Dann fügte sie hinzu: »Allein.«
Claudia Fisher war klein und halbwegs lebhaft – wie eine sportbesessene Schülerin, die
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